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Tunguska – Die Kisten sind da

D 1984, 71 min

Drei Avantgardeforscher am Rande des Nervenzusammenbruchs, ein Pärchen auf der Suche nach Benzin – und Alfred Edel, der sie alle fertigmacht! Eine Kriegserklärung inmitten der existentialistischen Exerzitien des neuen deutschen Nachwuchsfilms.

Synopsis

Einem eigenen und eigenwilligen Filmverständnis verleiht Schlingensief erstmals mit der Trilogie zur Filmkritik Ausdruck. Sie trägt den bezeichnenden Untertitel „Film als Neurose“ und besteht neben zwei Kurzfilmen aus Schlingensiefs erstem Langfilm TUNGUSKA DIE KISTEN SIND DA (1984). Ein im Vorspann des Films verlesenes Manifest formuliert die Absicht, neue Aspekte von Zeitgeist und Filmsprache zu entdecken und zu erforschen. Es gelte, die Hysterie um einen in die Jahre gekommenen Neuen Deutschen Film aufzudecken und seine aus politischen und ästhetischen Utopien bestehende Maskerade zu erkennen. Schlingensief verspürt den Drang zum Handeln, verspürt „die verbrecherische Lust, einen Film zu machen“. Dementsprechend ist seine Trilogie weniger eine Kriegserklärung an die Vertreter eines stringenten Erzählkinos als vielmehr eine Aufforderung zum Befreiungskampf gegen die Vorschriften des filmischen Realismus.

TUNGUSKA DIE KISTEN SIND DA ist neben PHANTASUS MUSS ANDERS WERDEN und WHAT HAPPENED TO MAGDALENA JUNG Teil der „Trilogie zur Filmkritik“.

Streaming-Info

Der Film ist über unseren Vimeo-Kanal zum Leihen oder Kaufen erhältlich. Weitere Anbieter siehe „Film kaufen“.
Sprache: Deutsch, Untertitel: Englisch

Pressestimmen

Eine turbulente, exzentrische Auseinandersetzung mit dem Erzählkino, mit der Filmgeschichte, mit der Theorie des Sehens und mit der Wissenschaft, die den Zugang zum Lustgewinn durch Kunst verstellt. (Peter W. Jansen)

Die ultimative Abrechnung mit dem Avantgardefilm der 60er Jahre! (epd Film)

„Trilogie zur Filmkritik – Film als Neurose“ nennt Schlingensief seine ersten drei Filme. PHANTASUS MUSS ANDERS WERDEN (1983, 9min.): eine ironische Demonstration der Befangenheit von "Kunst"-Formen in spießigen Vorstellungen. WHAT HAPPENED TO MAGDALENA JUNG (1984, 14min.): Magdalena kann fliegen und widerspricht damit allen physikalischen Gesetzen und den Realitätserwartungen der Zuschauer.
TUNGUSKA – DIE KISTEN SIND DA (1984, 75 min.): ein Film-„Salat“. Spielerei um Film im Film, wo die Logik der Bilder jede logische Geschichte überflüssig macht. Wenn der Film anfängt zu brennen, darf der Vorführer den Projektor nicht abschalten. Denn es ist der Film als Film, der Feuer fängt, nicht der Film als Material. Ein Erzählfilm, ein Actionfilm und eine Show. Der Titel hat etwas mit der gigantischen Explosion 1908 in Sibirien an den Tunguska-Flüssen zu tun, deren Ursache bis heute nicht geklärt ist. Es gibt 80 Theorien, aber keine läßt sich beweisen. Die Kisten – Kunstgattungen, Erzählweisen, Medien – sind geöffnet und können geplündert werden. (Torsten Alisch, Der mutmaßliche Rimbaud des Films Christoph Schlingensief, 20.05.1987)

„Jedes Bild ist eine Kiste, die der Zuschauer selbst öffnen und auspacken muß. Sie kann einen neuen Inhalt haben, wenn der Zuschauer in der Lage ist, den Regisseur zu vergessen.“ Dies ist der Anspruch von Christoph Schlingensief, der mit TUNGUSKA seine erste Arbeit mit Spielfilmlänge präsentierte. Er setzt sich dabei theoretisch mit dem Medium Film und der Rezeption durch den Zuschauer auseinander, sicher eine sehr schwierige Aufgabe. Auf den Inhalt im einzelnen einzugehen, verbietet sich regelrecht, denn Schlingensief greift mit seiner Collage gerade das Erzählkino an, führt den Zuschauer bewußt in die Irre. TUNGUSKA enthält einige Elemente des Experimental-Films, beispielsweise das einfache Gegeneinanderschneiden von schwarzem und weißem Film, die „Komposition in Blau“ von Oskar Fischinger aus dem Jahre 1933 und das Verbrennen der Filmkopie, das allerdings nach dem zweiten Mal nur noch langweilig wirkt. (...)
Auch wenn viele Zuschauer wenig mit TUNGUSKA anfangen können, so versucht er zumindest eine Diskussion anzuregen. Der Film zeigt die Erfahrungen, die sich Schlingensief als Assisent bei Seitz und Werner Nekes erworben hat. Auch wenn er sich mit dem Thema übernommen hat, so zeigen einzelne Einstellungen, daß er sein Handwerk gelernt hat. TUNGUSKA soll als Abschluß einer „Trilogie zur Filmkritik“ zusammen mit den zwei Kurzfilmen PHANTASUS MUSS ANDERS WERDEN und WHAT HAPPENED TO MAGDALENA JUNG im Kino gezeigt werden. (Kay Hoffmann, Film-Echo, 16.11.1984)

TUNGUSKA – DIE KISTEN SIND DA von Christoph Schlingensief – ist ein exzentrisches Gebräu aus Märchen, Avantgardefilm und ästhetischem Exkurs. Nacht, Wind, Wölfe, ein Geisterwald, ein verlassenes Schloß, ein verirrtes Pärchen: Rocky Horror Spessart, Rumpelstilzchen, Erzählmuster, Zitate (u.a. Fischingers „Komposition in Blau“ von 1933), alles nur ein Traum, alles nur eine Filmvorführung, alles sehr laut und chaotisch. Der Regisseur, 24, ist Filmdozent, war Assistent von Nekes und Seitz (DOKTOR FAUSTUS), und irgendwie schlagen sich die drei Tätigkeiten in dem Experiment nieder. Es ist der Abschluß einer Trilogie, „Film als Neurose“. Na ja. Gut ist der dramaturgische Einsatz des experimentellen optischen Vokabulars und der kommentierenden Musik, weniger gut das ständige Gebrüll und Gehampel eines Trios sadistischer Avantgardeforscher, die hinter dem Zeitgeist her sind. Ein überanstrengtes, aber unterhaltsames und ganz und gar unübliches Kinodebüt. (Wolf Donner, 1984)

Bei allen Schwächen eines Erstlings – ein bemerkenswertes, erfrischendes absurd-komisches Debüt, dem viele Kinos zu wünschen sind. (Benedikt Ehrenz, 1984)

Und da das TUNGUSKA-Spiel nicht beliebig ist, sondern schlau entwickeltes Thema – eine Abrechnung mit 24 Jahren Filmgeschichte und Kunsttheorie –, wagen wir die Behauptung, daß Christoph Schlingensief einen genialen Film gemacht hat. (Dietrich Kuhlbrodt, 1984)

Preise und Festivals

- Internationale Hofer Filmtage 1984

Weitere Texte

Interview mit Alfred Edel über TUNGUSKA

Alfred Edel stand seit 1963 vor den Kameras aller Regisseure, die sich in Deutschland einen Namen erwarben. Nun, 1983, übernahm der die Rolle des Avantgarde-Forschers Roy Glas in Christoph Schlingensiefs TUNGUSKA – DIE KISTEN SIND DA. Über die Arbeit mit dem 30 Jahre jüngeren Regisseur unterhielt er sich mit Carsten Lorenz.

Was unterscheidet die Arbeit Christoph Schlingensiefs von der anderer Regisseure?

Bei Christoph ist bereits der Regisseur das Medium. Das illusionäre Erlebnis von Film geht dadurch beim Drehen verloren. Für die Produktion hat es aber den großen Vorteil, daß nicht nur jeder sein Handwerk einbringt, sondern am Drehort eine eigene Gesamtillusion vermittelt wird.

Zu Schlingensiefs Arbeit gehört auch, nicht Dialoge und Einstellungen sondern Szenen zu liefern. Haben Sie das als Aufgabe an den Schauspieler empfunden, oder als fehlende Regie?

Ich spiele mich lieber hinein und frei. Deshalb kam mir diese Einstellung sehr entgegen. Ich gestalte nunmal lieber mit, als zum Objekt der Gestaltung zu werden. Meiner Meinung nach kann die Phantasie nur einbrechen, wenn diese Freiräume da sind. Anders ausgedrückt: Es müßte schon riesige Erfahrung da sein, um in einem perfekt durchkonstruierten Drehplan noch Phantasie unterzubringen.

Trotzdem muß es doch eine große Umstellung gewesen sein?

Natürlich. Nicht einmal alle Regisseure verstehen es, eine persönliche Beziehung zu den Schauspielern aufzubauen. Die Zusammenarbeit mit Christoph hat deshalb so gut geklappt, weil er die Individualität berücksichtigt.

In anderen Filmen hatten Sie oft Sprechrollen, in TUNGUSKA liegt der Schwerpunkt mehr auf der Aktion. Kam Ihnen das entgegen?

Ich liebe Aktionsrollen, weil ich der Meinung bin, daß Film von Handlung lebt. Die Gestaltung des Forschers war für mich leichter, als wenn ich einen Theologen spielen müßte. 

30 Jahre Altersunterschied liegen zwischen Ihnen und Christoph Schlingensief. Hat sich dieses ungewöhnliche Verhältnis auf den Film niedergeschlagen?

Ja, und zwar sehr positiv. Das ist eine ganz andere Generation, mit der ich da zusammengearbeitet habe. Die Chance für den Schauspieler und den Film liegen in diesem Unterschied. Da kann man viel leichter aus einem Rollenschema ausbrechen und das bringt Innovation mit sich.

Die Themenstellung eines vergleichsweise jungen Regisseurs, konnten Sie die nachvollziehen?

Als ich 1963 mit Kluges ABSCHIED VON GESTERN die erste Filmrolle spielte, war das Zeitgeist. Alexander Kluge, Werner Herzog, Jean Marie Straub oder Syberberg: zu ihrer Zeit war das Zeitgeist. Ich habe den Eindruck, daß Christoph Schlingensief heute den Zeitgeist in TUNGUSKA ausdrückt. An der Rolle des Roy Glas hat mich die Distanz von dieser Rolle zur Person fasziniert. Ein ständiger Lehrnprozess. Die Rolle liegt viel weiter als die Person. Das muß dann biographisch aufgearbeitet werden

Video Extra

Ausschnitt aus dem Interviewfilm Christoph Schlingensief und seine Filme. Aufgenommen am 01.05.2002.

PDF

Credits

Buch und Regie
Christoph Schlingensief
Mit
Irene Fischer, Mathias Colli, Alfred Edel, Anna Fechter, Vladimir Konetzny, Norbert Schliewe, Volker Bertzky, Christopher Krieg (Christoph Schlingensief)
Kamera
Dominikus Probst
Kameraassistent
Thomas Göttemann
Ton
Andreas Wölki
Schnitt
Barbara Lamsfuß
Ausstattung
Bertram Strauß
Licht
Reinold Specks
Kostüm
Julia Strauß
Tricks
Norbert Schliewe, Christoph Schlingensief
Trommel
Baba Yoro Diop, Christoph Gerozissis, Mathias Colli
Orgel
Christoph Schlingensief
Jugendorchesterleitung
Wolfgang Dehnert
Teambetreuung
Gerhard Fechter
Kopierwerk
Hadeko / Neuss
Tonmischung
Hadeko / Herr Bontsch
Script
Eckhard Kuchenbecker
Aufnahmeleitung
Ralf Malwitz
Produktionsleitung
Edgar Cox
Produziert von
DEM Film, Christoph Schlingensief
Premieren
28.09.1984, Mühlheim Stadthalle, 25.10.1984, Hofer Filmtage

DVD-Infos

Restaurierter Film, 2K Scan, Original Kinofassung
Extras
„Phantasus muss anders werden“ (1983, 9 min – opt. engl. UT), „What happened to Magdalena Jung?“ (1983, 13 min – opt. engl. UT), Christoph Schlingensief – Interview (2002, 15 min), Alexander Kluge im Gespräch mit Christoph Schlingensief (1996, 45 min), TV-Bericht über Christoph Schlingensief (1986, 16mm, 8 min), Schlingensief-Filmtrailer
Sprache
Deutsch
Untertitel
Englisch
Ländercode
Code-free
System
PAL / Farbe
Laufzeit
72 min (25 fps) + 90 min Extras
Bildformat
16:9
Tonformat
DD 2.0
Inhalt
Digipack (Set Inhalt: 1), 28-seitiges Booklet mit dem Kinoplakat, Originaldokumenten, Interview, Biografie und Fotos
Veröffentlichung
22.10.2021
FSK
12

Kinoverleih-Infos

Verleihkopien
DCP (2K, 24 fps, 5.1)
Blu-ray Disc
16mm (Mono, über Deutsche Kinemathek)
Bildformat
16mm, 1:1,38
Sprache
Deutsch
Untertitel
Englisch (DCP, BD)
Werbematerial
A1-Poster (leihweise)
Lizenzgebiet
Weltweit
FSK
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