Heinz Emigholz über die Filmserie „Photographie und jenseits“
Meine Arbeit als Filmemacher besteht darin, den dreidimensionalen Raum auf einer zweidimensionalen Bildfläche zu präsentieren, ihn also in filmische Einstellungen zu zerlegen und in der Projektion neu zu konstruieren. Kameraarbeit ist so gesehen eine architektonische Tätigkeit. „Photographie und jenseits“ ist eine Filmserie, an der ich seit 1983 arbeite. Die Filme befassen sich als gestaltete Produkte mit Räumen, die schon gestaltet worden sind. Eine zweite Gestaltung wird über eine erste gestülpt. Ich habe mich gefragt: Wie wird ein Bewußtsein über Räume und Orte erzeugt ohne eine dazwischen geschaltete Dramatisierung, wie können die Räume für sich selbst sprechen? Die Entscheidung war, Film wieder auf das zu konzentrieren, was er wesentlich ist: Abbildungsfunktion und lineare Strecke, also Repräsentant des Raumes und der Blicke. „Jenseits“ meint dabei nicht den Himmel, also irgendeine religiös definierte Transzendenz, sondern den Raum hinter der Retina, in dem wir lesen und fühlen, was wir sehen – der Raum, in dem das Gesehene in unser Bewußtsein hinein oder aus ihm heraus übersetzt wird. In dieser Serie muß sich der Film tatsächlich messen lassen an dem, was er abbildet und wie er das tut. Er soll tatsächlich einfach nur zeigen. Er soll bewußt Kreuzungen von Ort und Zeit anlegen, bewahren, anschauen und analysieren – also wieder sehen lassen, was außer ihm war. Das heißt, der Film gerät wieder in eine reale Relation zur Oberfläche der Welt. Die Fotografie eines Ortes findet unter dem Einfluß von Kraftfeldern statt. Sie sind bei der Komposition des Bildes unmittelbar in den Augen zu spüren. Der Raum wird fotografisch verschraubt. Er realisiert sich in der Relation von Blick und Wirklichkeit im Prozeß eines durchdringenden Abtastens. Seit ich Filme mache – also seit fünfundvierzig Jahren (und für mich ist Filmemachen synonym mit Kameraarbeit, die ich selbst ausführe), bin ich fasziniert vom Kadrieren des filmischen Bildes. Also von der Konstruktion eines Bildes durch Komposition seiner Flächenbestandteile innerhalb eines vorgegebenen Rechteckes. Ich bin kein Architekt, habe keine Ahnung von der Gestaltung dreidimensionaler Objekte, sehe mich aber als Spezialist, dreidimensionale Situationen auf eine Bildfläche überführen zu können. Und dann werden diese konstruierten Bilder (die durch eine bereits konstruierte, dreidimensionale Realität ermöglicht worden sind) in einer linearen Weise angeordnet, werden aufgehäuft, addiert in unserem Bewußtsein im Akt des Sehens und Erinnerns, und so wird aus einem Film eine imaginäre Architektur in der Zeit. Man kann dann vielleicht darüber meditieren, was Architektur ist, war oder sein könnte. Aber um das geschehen zu lassen, müssen die Bilder von den Wörtern getrennt werden. Denn was diese Bilder uns wesentlich zu erzählen haben, sind nicht Wörter und Sätze, sondern Räume und Oberflächen und deren Beziehungen, denn das sind die Bestandteile der architektonischen Erfahrung.
„Photographie und jenseits“ ist eine Serie von über dreißig Filmen zu Architektur, Skulptur, Schrift und Zeichnung, an der Heinz Emigholz seit 1983 arbeitet.
Aus der Projektbeschreibung zu der Serie AUFBRUCH DER MODERNE
von Heinz Emigholz
Das Projekt AUFBRUCH DER MODERNE bildet mit den Filmen zum Werk von Pier Luigi Nervi und Auguste Perret den Abschluß einer Serie von Architekturfilmen, an der ich seit 1993 arbeite und in der bis jetzt sechs monografische Filme zum Werk von Louis Sullivan, Adolf Loos, Robert Maillart, Rudolph Schindler, Frederick Kiesler und Bruce Goff entstanden sind. In über sechzig weiteren Kurzfilmen (Miscellanea I-III, Sense of Architecture) enthält die Serie darüber hinaus Darstellungen einzelner Projekte weiterer Architektinnen und Architekten.
Ästhetisch nimmt die abschließende Serie AUFBRUCH DER MODERNE die Verfahren der bisherigen Filme wieder auf (chronologische Abfolge, konzentrierte Kameraarbeit, hochauflösende Kinobildqualität, mehrkanaliger Kinoton), erweitert sie aber wesentlich. In AUFBRUCH DER MODERNE wird die weitere Umgebung der thematisierten Bauwerke in die filmische Darstellung einbezogen: das Leben in den Tatsachen eines weltweiten, architektonischen Verhaus. Es wird ausführliche Schilderungen städtischer Landschaften geben. Die gefilmten Gebäude werden also nicht künstlich und ästhetisch idealisierend aus ihrer näheren Umgebung isoliert, sondern in den sie umgebenden Nachbar-schaften und Verkehrssituationen gezeigt. Die teilweise grotesken Wucherungen ungestalteter, autorenloser, architektonischer Räume sind das thematische Umfeld des Projektes. Das Projekt AUFBRUCH DER MODERNE wird damit auch zu einer Aussage über das Schicksal der architektonischen Moderne in unserer Gegenwart, also ihr Aufbrechen. Der Titel des Filmprojektes offenbart darin seine Doppeldeutigkeit.
Für den Teil des Projektes AUFBRUCH DER MODERNE zum Werk Pier Luigi Nervis bedeutet dies, dass seine kühnen Raumkonstruktionen für öffentliche Großbauten zu den Bauaufgaben und Ruinen der antiken, römischen Architektur in Beziehung gesetzt werden. Im Film PARABETON liegt der Schwerpunkt auf dem Vergleich von Kuppel- und Gewölbebau in der Antike und der Gegenwart. Die analytische Betrachtung der umbauten Räume durch Kinematographie bedeutet auch die Herausarbeitung der von ihnen erzeugten, jeweiligen Atmosphären, die sich nur mit den Mitteln des Kinos nachvollziehen und erfahren lassen.
Das Projekt AUFBRUCH DER MODERNE ist nicht an der Idealisierung einer singulären und skulptural-monumentalen Architektur interessiert, sondern am Gebrauchswert einer ästhetisch durchformulierten Architektur. Diese sucht und sieht im menschlichen Maß das Umfeld ihrer Möglichkeiten. Alte Ideale werden von neuen Ideen bevölkert, die Zeit hinterlässt nicht vorhersehbare Spuren. Gebäude werden zu Containern einer gespeicherten Wirklichkeit. Ihre Oberflächen und nachbarschaftlichen Verbindungen sprechen für sich. Wenn das dokumentarische Filmbild eines können sollte, dann ist es, die Oberflächen des Wirklichen unverblümt unideologisch wiederzugeben und filmfotografisch miteinander in Beziehung zu setzen. Die Gegenwart, und damit das zukünftig Vergangene, wird dadurch ebenso lesbar wie die Intentionen einer vergangenen gestalterischen Anstrengung, die sich in einem Bauwerk manifestiert haben. Zwar „baut“ der Architekt mit seinem Werk auch seine Autobiografie, erfüllen tut sich diese aber erst in der Geschichte und mit dem gegenwärtigen Zustand seiner einzelnen Bauwerke. So enthält der Aufbruch und die Umsetzung einer gestalterischen Idee auch immer den ihr innewohnenden Niedergang, ihre »Auflösung« in der Geschichte. Film ist zugleich Zeuge dieser Bewegung und Monument ihrer Gewesenheit.
Ich werde – wie bei allen meinen bisherigen Filmen auch – beim Projekt AUFBRUCH DER MODERNE die Kamera führen. Wie ich diese Kameraarbeit verstehe und bei den schon abgeschlossenen Filmen entwickelt habe, ist integraler Bestandteil des vorliegenden Projektes. Die Spannung, die die abgefilmten Räume auf der Leinwand erzeugen, entsteht in der Kamera und in der Kombination der von mir gestalteten Bilder. Für alle Filme meiner Architekturfilmserie gilt ein besonderes Erkenntnisinteresse: Es geht mir um den filmischen Nachvollzug der unmittelbaren Erfahrung von Räumen, um ein möglichst genaues Portrait dieser Räume und seiner Details im Kino. Die architektonischen Räume sollen im Bewußtsein des Betrachters wieder auferstehen. Die Arbeit mit hochauflösendem Material und mehrkanaligem Kinoton ist für dieses Projekt unabdingbar, damit Räume real in einzelnen Einstellungen repräsentiert werden können, und die Illusion eines komplexen Raumzusammenhanges entstehen kann. In anderen Bildaufnahmeformaten erscheinen Räume auf Bildflächen mehr oder weniger nur „wie zitiert“. Zitate bieten aber nur reduzierte Erfahrungen, wenn es um Räume und die Stellung des menschlichen Betrachters darin geht.
Die hohe Bildauflösung ermöglicht es, Kamera und Raum in ein neu konstruiertes Verhältnis zu setzen. Nur so kann sich ein aktives Drama entfalten, das sich zwischen Raum und Blick entwickelt. Es geht in meiner Kinematographie um die Auseinandersetzung mit den Tatsachen des Raums: Wir selbst nehmen als Körper Raum ein und befinden uns ständig in Räumen, die immer ganz bestimmte Strukturen aufweisen und in unseren Köpfen bestimmte Wirkungen auslösen – seien es nun Landschaften oder künstlich gestaltete Räume. Die allgemeine Popularität von Architektur beruht genau auf dieser Tatsache. Meine Arbeit als Filmemacher besteht nun darin, den dreidimensionalen Raum auf einer zweidimensionalen Bildfläche zu präsentieren, ihn also in filmische Einstellungen zu zerlegen und in der Projektion neu zu konstruieren. Kameraarbeit ist so gesehen eine architektonische Tätigkeit. Auch in dem Sinne, dass sie im Entwurf Blicke aktiv projiziert und nicht nur passiv entgegennimmt. Das wesentliche Hilfsmittel ist dabei die Zeit. Eine lineare Abfolge filmischer Einstellungen erzeugt im Gehirn des Betrachters eine imaginäre Architektur in der Zeit. Dabei ermöglicht erst die Qualität der einzelnen filmischen Einstellungen, daß der Betrachter diese „imaginäre“ Architektur mit der „realen“ angemessen in Beziehung setzen kann. Genau an dieser Stelle scheitern die meisten Filme über Architektur. Sie nehmen die sprachlichen Dimensionen des Bildes nicht ernst und ziehen sich auf die Wortsprache eines Kommentars zurück, der als gesichertes Terrain gilt, wenn es um Bedeutungszuweisungen geht.
In den meisten Schriften, die sich heutzutage theoretisch mit dem Leben und Werk eines Architekten befassen, wird mit Interpretationen und Bezügen zu anderen Bauwerken gearbeitet. Mein Motiv ist es dagegen, die Phänomene selbst als sprachlichen Ausdruck zu erkennen und ernst zu nehmen. Unter dieser Prämisse kann man „Autobiographie“ auch bauen, sie beschränkt sich nicht mehr nur aufs Schreiben und Sagen. Wenn der Zuschauer in die Lage versetzt wird, durch einen Film Räume zu erfahren, „liest“ er in der Autobiographie ihres Architekten. Das ist der Unterschied zu anderen Filmen „über“ Architektur. Mein Film erklärt die vorgeführten Architekturen von innen heraus, indem er sie erfahrbar macht. Kommentare und Hintergrundinformationen sind in diesem Zusammenhang nur Ablenkungsmanöver und werden bei diesem Projekt in anderen Medien – Websites und DVDs zu den einzelnen Filmen – geboten. Der Film zeigt zur Hauptsache Bauwerke, wird damit aber auch zu einem Dokumentarfilm über das Jahr ihrer Herstellung. Als Filmemacher interessiert mich die Gegenwart so, wie ich sie vorfinde, und nicht als idealisiertes Gebilde. Geschichte und Gegenwart sind zu einem wesentlichen Bestandteil der entworfenen Bauwerke geworden, und wenn sie inzwischen verändert wurden und ihr ursprüngliches Aussehen verloren haben, ist das ein Hinweis auf das Schicksal der Moderne, die von ihren ursprünglichen Absichten verlassen dasteht.
Falls es mit dem Normalobjektiv möglich ist, wird der Film die nähere Umgebung der Gebäude mit abbilden. Sehr oft sind die Bauwerke aber so in die städtische Landschaft und die Vegetation eingepasst, dass einem nur ein extremes Weitwinkel oder Luftaufnahmen einen Überblick verschaffen könnten. Darauf werde ich verzichten, weil sich mein Projekt mit dem menschlichen Maß des Sehens befasst – und nicht mit virtual reality oder der Weitwinkeltotale als Instrument der Beherrschung. Für die Aufnahmen des Films AUFBRUCH DER MODERNE gelten einfache Regeln: Reduzierung der Linsen auf Normalobjekte, kein „dramatisierendes“ zusätzliches Licht, das die dem Gebäude inhärente Lichtdramaturgie zerstören würde. Die Bauwerke erscheinen in der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung. Man soll durch den Film eine Vorstellung davon bekommen, wie sich bestimmte Formen, Materialien, Entwürfe und auch die Benutzung der Gebäude innerhalb der Lebensgeschichten der Architekten entwickelt haben.
Für mich stellt sich der Weg der kinematographischen Rekomposition des Raumes als Notwendigkeit dar – im Akt der filmischen Aufnahme, aber auch in dem des Betrachtens. Der Blick wird quasi wie Materie auf den Raum aufgeschraubt und macht klar, dass dieser Raum nur durch unsere bestimmten und endlichen Körper in der Zeit existiert. Wir sind das Medium des Raumes und seiner Oberflächen, und jeder durch Kinematographie festgelegte Blick ist in seiner Feinstofflichkeit die Interpretation einer seiner Möglichkeiten. Mich interessiert ein komponiertes Blickergebnis, das sich ausschließlich den Besonderheiten des Objektes verpflichtet fühlt. Im gleichen Maße wie dessen Phänomene existieren, existiert auch mein Kopf und mein Denken diesen Erscheinungen gegenüber. Der Blick richtet sich auf eine komplexe, dreidimensionale Situation und ist nicht primär an konventionellen Rahmenverhältnissen interessiert. Innerhalb meines Konstrukts – also dem eines technischen Bildmediums – sind die Augen Außen- oder Schnittstellen des Gehirns. Sie denken und fühlen zugleich. Film gerät so wieder in eine reale Relation zu den Oberflächen der Welt und verharrt nicht nur im Spekulativen. Er kann bewußt Kreuzungen von Ort und Zeit bewahren und analysieren – also das Sehen und das Erblickte zu einer gegebenen Zeit auch wieder auferstehen lassen. Die Drehreisen, auf denen die Entscheidungen für bestimmte Blicke getroffen werden, werden dann zum eigentlichen Medium.
Viele berühmte Bauwerke kennen wir nur durch einzelne Fotografien. Ich glaube aber, dass wir diese Gebäude, wenn sie uns denn berühren, eigentlich überhaupt erst wieder zugänglich machen oder für unser Denken aktualisieren können, wenn wir sehen, wie sie heute existieren. Dann stellt sich ganz von selbst eine Beziehung zu dem her, was heute als „gute Architektur“ gilt, jenseits eines Textbuch-Wissens. Wie seltsam ist es dann, dass diese Gebäude und ihre Details in ihrer Wirkung heute immer noch existieren und ihre Gestaltung ausstrahlen. Deshalb beginnt jedes Kapitel der Filme auch mit dem verbürgten Aufnahmedatum. Mit den Filmen werden zeitliche Monumente geschaffen, die die Realität der gezeigten Bauwerke als Argumente innerhalb einer aktuellen Debatte über Architektur vorführt. Die Filmserie Architektur als Autobiographie unternimmt so eine künstlerische Forschung mit den Mitteln des Films.
Das Projekt AUFBRUCH DER MODERNE beinhaltet eine abschließende, große Anstrengung, um einen grundlegenden, Insidern wohlbekannten, in der allgemeinen Öffentlichkeit aber vergleichsweise wenig präsenten Strang der internationalen architektonischen Modern mit den Mitteln des Kinos zu portraitieren und bekannt zu machen. Diese Architect’s Architects (Sullivan, Loos, Perret, Maillart, Schindler, Nervi, Kiesler, Goff) waren jeder für sich Visionäre und Meister des Raumes. Sie verwirklichten mit den zu Anfang des 20. Jahrhunderts neu entwickelten, baustofflichen Möglichkeiten komplizierte räumliche Vorstellungen und Entwürfe, die zu einer neuen poetischen Syntax des Raumes führten. Ihr „Alphabet“, ihre Sprache, waren die neuen Formen, die durch armierten Beton zu bauen möglich geworden waren. Sie schufen in ihrem Werk zugleich eine ausgereifte und gestalterisch vorbildliche Enzyklopädie dieser Möglichkeiten, die bis heute im Werk vieler zeitgenössischer Architekten nachwirken. Die Filmserie Architektur als Autobiographie fühlt sich dieser Enzyklopädie grundlegend verpflichtet.
„Jeder erlebt den Raum anders“
Ein Interview mit Heinz Emigholz in der Akademie der Künste (von Christoph Terhechte)
Anlässlich der vierteiligen Serie „Streetscapes“, die im diesjährigen Forum zu sehen ist, trafen sich der Regisseur Heinz Emigholz und Forumsleiter Christoph Terhechte in der Akademie der Künste am Hanseatenweg, einem der zentralen Spielorte von Forum und Forum Expanded. Sie sprachen über Framing und Schnitt im Architekturfilm, Träume, das Gebäude der Akademie und die Notwendigkeit von Recherchereisen.
Heinz Emigholz ist Filmemacher und Künstler. 1974 lief erstmalig sein Film ARROWPLANE im Forum. Seitdem war er mit zahlreichen weiteren Filmen vertreten, zuletzt 2014 mit THE AIRSTRIP – AUFBRUCH DER MODERNE, TEIL III.
In diesem Jahr zeigt das Forum seine Serie „Streetscapes“, die aus den Filmen 2+2=22 [THE ALPHABET], BICKELS [SOCIALISM], STREETSCAPES [DIALOGUE] und DIESTE [URUGUAY] besteht.
In STREETSCAPES [DIALOGUE] hast du ein Gespräch mit dem Psychoanalytiker Zohar Rubinstein in der Kulisse der Bauten von Eladio Dieste und anderen reinszeniert. Der amerikanische Schauspieler John Erdman tritt als Filmemacher auf und der argentinische Regisseur Jonathan Perel als Analytiker. War das Gespräch von vornherein als eine Art Drehbuch geplant?
Nein. Diese Idee hat sich erst während des fünftägigen Gespräches herauskristallisiert. Das ist das Merkwürdige an diesem Film: der Regisseur kommt während des Gespräches darauf, den Film zu machen, den wir sehen. Da findet eine Inversion von Zeit statt. Der Film stellt einen Prozess dar, den man eigentlich nicht darstellen kann. Ich hatte Zohar allerdings gefragt, ob etwas dagegen spricht, dass ich unser Gespräch aufnehme, da ich Angst hatte, etwas davon zu vergessen. Das spricht natürlich gegen eine analytische Praxis. Da ihm klar war, dass wir keine klassische Analyse machen, sondern eine Intervention oder einen „Marathon“, wie er es nannte, hatte er nichts dagegen.
Euer Gespräch kreist auch um die Frage der kreativen Blockade und um die Kraft, die es braucht, ein Werk fertigzustellen. Was hat dich dazu gebracht, vier Filme auf einmal auf den Weg zu bringen?
Es sind ja vier Filme, die im Laufe von drei Jahren hergestellt worden sind. Ich hatte 2+2=22 [THE ALPHABET] schon im Oktober 2013 gedreht, nur wusste ich dann nicht, wie es weiter geht, und dann ist er liegengeblieben. Durch das Gespräch mit Zohar ergab sich plötzlich die Lösung, wie die Filme ineinandergreifen konnten. Natürlich ist der Dialog mit dem Analytiker der Schlüssel zu den anderen Filmen. Ich habe den Dialog zusammengestrichen auf Themen des Filmemachens. Ich hatte 260 Seiten, davon sind 60 übriggeblieben. Die Grundstruktur ist eine Analyse des Filmemachens, die selbst zu einem Film wird. Meine Architekturfilme wurden ja oft dafür kritisiert, dass sie keinen Text haben, dass sie zwar die Räume zeigen, aber nichts erklären. Das findet jetzt in diesem dritten Film statt. In STREETSCAPES [DIALOGUE] erzählt der Filmemacher, was er überhaupt sinnvoll findet am Filmemachen. Insofern erklären sich diese Filme gegenseitig.
Deine Architekturfilme hast du unter der Überschrift „Photographie und jenseits“ zusammengefasst. Warum Fotografie und nicht Kinematografie?
Ich mache das Framing, und während ich das Bild einrichte, kümmert sich Till Beckmann um die Technik, damit ein durchgezeichnetes Bild dabei herauskommt. Das Framing ist für mich ein fotografischer Akt: den Ausschnitt festzulegen im Wissen, was man noch filmen wird oder schon gefilmt hat. Das ist eine kinematografische Entscheidung, aber gleichzeitig denke ich, dass jedes einzelne Bild so konzentriert komponiert sein muss, dass es für sich selbst stehen kann. Also nicht nur ein Füllbild oder Schnittbild sein, oder wie man das so nennt beim Filmemachen. Das ist eine kompositorische Anstrengung, die auch in der Fotografie zu finden ist. Hier kommt allerdings das Element Zeit hinzu. Die Dauer und der Schnitt, der ja immer ein science-fiction-hafter Eingriff ist in die Zeitkonstruktion.
Das Framing deiner Architekturfilme hat sich quasi zum Markenzeichen entwickelt. Architekturfotografie ist meist wesentlich konservativer als deine Weise, Räume fotografisch zu erfassen.
Zum einen ging das aus den Spielfilmen hervor. „Die Wiese der Sachen“ und „Der zynische Körper“ haben sich schon schwer mit Architektur beschäftigt. Nur, dass da noch Schauspieler rumliefen und irgendwas erzählten. Aber ich wollte aus diesem Zusammenhang Vordergrund-Hintergrund raus. Der sogenannte Hintergrund war für mich genauso wichtig wie der Vordergrund. Als ich die Schauspieler weggelassen habe, konnte ich mich dem Raum natürlich noch viel mehr hingeben. Alle Räume haben eine bestimmte Sprache, und man hat ein bestimmtes Gespür dafür. Man nähert sich den Räumen an, natürlich auch auf der Tonebene, und stellt seinen Körper quasi in den Raum. Die Fotografie ergibt sich darüber, wie ich auf diesen Raum reagiere. Ich habe ja nicht das Problem der Architekturfotografie, dass ich alles in drei Bildern erfassen muss. Ich habe eine Sequenz und kann viel diffiziler Räume wieder zusammensetzen. Du nennst es ein Markenzeichen, aber vorher gab es solche Filme gar nicht. Die ersten wurden im Forum 2001 gezeigt. Ich habe die in den 1990er Jahren gedreht und dachte, das ist eine notwendige, aber auch simple Idee, Häuser zu betreten und zu zeigen, wie die Räume sich entfalten. Ich dachte, da muss es schon tausend Filme geben. Aber es gab keine. Ich will das doofe Wort Alleinstellungsmerkmal nicht verwenden, aber das, was du Branding nennst, hat sich aus der Logik, wie ich auf die Räume eingehe, ergeben. Jeder erlebt den Raum anders.
Wenn ich dich mit der Hauptfigur von STREETSCAPES [DIALOGUE], der natürlich ein Spielfilm ist, gleichsetzen darf, dann beschreibst du dich als Nomaden, der ebensogut in einem Hotelzimmer in Montevideo sein kann wie in Berlin, an das es keine wirkliche Bindung gibt. Architektur setzt doch das Gegenteil voraus. Ob es öffentliche Architektur ist wie die Akademie der Künste, wo wir uns befinden, oder Wohnarchitektur: Bauten sind unverrückbar, sie wollen eine Heimstatt schaffen.
Ich habe manchmal Fantasien: Wie wäre es, wenn ich in diesem Haus, das ich jetzt filme, lebte? Manchmal ist das sogar eine schreckliche Vorstellung. Architektur hat so vielfältige Aufgaben. Nehmen wir Bickels’ Kibbuz-Architektur: In so einem Zusammenhang hätte ich auch gern gelebt. Aber dieser Zusammenhang existiert kaum noch oder noch nicht wieder. Was ich interessant finde an den vielen Architekturen, die ich jetzt im Kopf habe, das ist, dass ich mich hinlegen kann und sagen: Jetzt erinnere ich mich mal genau, wie es da und da war. Das ist wie Urlaub im Gehirn – dank dieser seltsamen Kapazität, die das Gehirn hat, sich Räume wieder hervorzurufen. Das hat was Beruhigendes. Mich interessieren aber, gerade im Verhältnis zum Film, sehr verschiedenartige Konstruktionen und nicht das eine Traumhaus, das für mich gebaut ist. Und auch die verschiedenartigen Bauaufgaben: soziale Bauten, Kulturhäuser, Brücken, Ingenieursbauten. Brücken interessieren mich, aber ich möchte nicht unter einer leben.
Träumst du manchmal Architektur?
Ja, stark, das ist mein nächstes Projekt. Da geht es um die Grammatik des Traumes, um Zeitsprünge, um inversive Zeit, um die Abbrüche im Erleben eines Traumes, die Nichtwiederholbarkeit eines Traumes. Und Architekturen haben immer auch als bedrohliche Konstruktionen in meinen Träumen eine große Rolle gespielt. Darauf bin ich auch im Gespräch mit Zohar Rubinstein eingegangen.
Wie triffst du deine Wahl der Architekten, deren Bauten sich deine Filmen widmen? Ich erinnere mich an eine Begegnung in Buenos Aires, wo das Festival Bafici in einer ehemaligen Markthalle stattfand, einer Betonarchitektur, die dich fasziniert hat.
Vom Architekten Viktor Sulčič hatte ich nie vorher gehört. Nachdem ich das Gebäude gesehen hatte, habe ich mich ins dortige Stadtarchiv begeben und geguckt, was der alles gebaut hat in Buenos Aires. Das habe ich mir dann alles angeschaut. So kommt das zustande. Ich folge ja keinem Lehrbuch, „Die wichtigsten Architekturen der Welt“ oder so. Ich liebe komplizierte Räume, und einige Architekten können das bauen und andere nicht. Ich liebe nicht die Fassadenkünstler, sondern konstruktives Bauen. Ich hatte eine Liste von Vorlieben. Die habe ich abgearbeitet, doch dann kamen immer neue dazu, wie zum Beispiel Bickels oder Sulčič, die ich vorher gar nicht kannte. Ich gucke mir natürlich auch Fotografien an, ehe ich auf Recherchereise gehe, und oft erkenne ich die Häuser von den Bildern gar nicht wieder, weil die durch fotografische Eingriffe wie Weitwinkel so verzerrt sind, dass ich vor Ort ein völlig anderes Raumgefühl habe. Das ist genau mein Thema: Man muss da sein, um das zu erkennen. Ich habe diese Reisen jahrzehntelang unternommen, die waren mir extrem wichtig. Du hast ein kleines Team, du stehst nicht unter Druck, und du hast Zeit, dich auf etwas einzulassen. Das war für mich eine tolle Zeit. Es liegt so viel brach. Der selbstgerechte Kanon der modernen Architektur hängt mir so zum Hals raus, weil all die Entdeckungen, die da noch zu machen wären, einfach nicht gemacht werden. Es gibt zu wenige Leute, die sich damit befassen.
Vor vier Jahren fand Forum Expanded in der Kreuzberger Kirche St. Agnes statt, die von dem Berliner Architekten Werner Düttmann gebaut wurde, und seit drei Jahren sind wir wieder hier in der Akademie der Künste im Tiergarten, die Düttmann bis ins Detail gestaltet hat. Was sagt dir dieser Ort?
Ich kenne die Akademie seit den 1960er Jahren, als ich zum ersten Mal nach Berlin kam. Das war immer ein Ort, der außerordentlich anziehend und seltsam für mich war, in seinen Proportionen, und wie er Ausstellungsräume mit Räumen verbindet, in denen man sitzen und diskutieren kann. Und dann dieser großartige Kinosaal. Ich glaube, ich hatte zum ersten Mal Filme 1974 im Forum, da war ich selbst gar nicht da, sondern in den USA. Als ich dann zurückkam, war das Forum noch im Sommer und das fand hier statt, was ganz toll war. Wir haben 2012 unseren Think:Film-Kongress hier gemacht mit über 300 Teilnehmern und haben dabei auch festgestellt, wie gut das Haus parzelliert ist in Räume, in die man sich zurückziehen kann, Räume, in denen man im kleineren Kreis Gespräche führen kann, und dann das große Forum und so weiter. Dann natürlich die Lage mitten in diesem Park. Es ist seltsam, dass das Gebäude nicht nur seinen Charme nicht verloren, sondern sogar noch gesteigert hat. Wo so viel davon geredet wird, man müsse Gebäude bauen, die kommunikativ sind. Gerade gab es diesen Wettbewerb über die Galerie des 20. Jahrhunderts, und dann hört man, da sind Achsen, die durchs Haus gelegt werden, und in der Mitte gibt's dann einen Kommunikationspunkt. Das sind so seltsam abstrakte Ideen. In diesem Haus ist das schon alles verwirklicht, dafür muss man keine großartige Achsenphilosophie aufziehen. Ich mag auch die Form. Diesen merkwürdigen rechteckigen Block, die Innenhöfe, und auch das Auditorium mit dieser beidseitig bespielbaren Bühne. Die Faszination für dieses Gebäude hat sich jetzt seit fast 60 Jahren erhalten.
In deinem Film über Bickels geht es stärker als in anderen deiner Architekturfilme um die Nutzung der Orte. Ich habe da deine Wehmut gespürt darüber, dass etwas gebaut worden ist für einen Zweck, der nicht mehr existiert.
Auf Bickels bin ich durch Zufall gekommen, weil ich die Lichtkonstruktion in seinem Museum in Ein Harod so unglaublich fand und daran erinnert wurde, dass Renzo Piano diese Konstruktion von Bickels für seinen Museumsbau in Houston, Texas übernommen hat. Bickels war extrem gebildet, seine Bibliothek ist Teil des Museums in Ein Harod. Aber sein Interesse galt vor allem den besonderen Erfordernissen der Kibbuze, wie den Kulturhäusern. Es ging ihm aber auch darum, wie die Häuser zueinander stehen, die öffentlichen Plätze, die vielen Theater, die inzwischen oft leer stehen, seit sich das Fernsehen durchgesetzt hat. Das hat mich immer mehr interessiert: Wie ist das soziale Moment innerhalb des Kibbuz situiert? Für die Kibbuz-Bewegung ist Kultur extrem wichtig. Bickels hat sehr erfinderisch an immer neuen Lösungen gearbeitet, um das in einem bestimmten Kibbuz zu verwirklichen. Interessant ist aber auch, wie das Kollektiv daran mitgearbeitet hat. Da kam nicht der Star-Architekt und baute irgendwas, sondern es wurde immer genau besprochen: Was brauchen wir, was können wir uns leisten, welche Dimension soll das haben, und welchen Stellenwert hat das innerhalb unseres Gemeinwesens? Das ist eine utopische Art des Bauens. Das ist das Gegenteil des üblichen Bauens, wo oft nicht mehr entsteht als eine Skulptur für den Architekten. Dieses herausgekehrt Skulpturale, ich finde das verachtenswert. Deshalb heißt das ganze Projekt auch „Streetscapes“: Man ist auf der Straße und guckt, was da kommt. Da werden keine Gebäude isoliert und als Meisterwerke herausgestellt.
Der Epilog des vierten Films, DIESTE [URUGUAY], zeigt die Arbeiten, die dieser uruguayische Architekt am Ende seines Lebens in Spanien verwirklicht hat. Die wirken wie Persiflagen seiner Bauten in Uruguay.
Es sind kleinere Versionen der Kirchen, die wir in Uruguay gesehen haben, nur in Spanien funktionieren sie nicht. Sie sind vielleicht fotogener, weil sie kleiner sind und kompakter, aber wir haben in Spanien von den Nutzern nur gehört, dass man die nicht gebrauchen kann. Da ist es im Sommer zu heiß und im Winter zu kalt, und die Gemeinde betet im Keller, weil es oben zu kalt oder zu heiß ist. Das waren seine letzten Jahre, und er hat sich stilistisch wiederholt. Aber wenn man die Iglesia de San Pedro in Durazno sieht, wo diese Backstein-Sechsecke ineinandergesetzt sind, Fenster ohne Glas, und dann siehst du es in Spanien mit Doppelglas, kleiner aber auch klobiger, dann erkennst du auch die Geschichte eines Architekten, der seine Formenwelt durchdekliniert, auch wenn sie nicht mehr richtig funktioniert.