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Normalsatz

USA/D 1982, 109 min

Schöne Dinge sollten eigentlich nicht von Karstadt kommen, aber in Wirklichkeit tun sie es.

Synopsis

Brookburg, am 30. April 1975, dem ersten Tag des Friedens, im Büro der Erinnerung. Ein junger Künstler, Spezialist für die Getrenntheit der Kulturen, versucht die Analyse seiner brutalen Sentimentalität. Intellektuelle amerikanische TV-Babies praktizieren vor seinen Augen die Analyse ihrer Gefühle am Medium Soap, das ihm unverständlich bleiben muss, weil er es als Kind entbehrte. Ihm bleibt die Isolation seiner Arbeit. Nach einem unbewussten Raster sammelt er attraktiv erscheinende Sätze in Bataillonen von Notizbüchern, in denen auch für die Sprache der Sinn der Bilder gilt: Die Anarchie der Gleichzeitigkeit, die das Leben ermöglicht, das die Geschichte zerstört.

Die getrennten Orte und Zeiten werden zusammengewoben. Ländergrenzen verlaufen zwischen Behelfsküche und angrenzendem Wohnbüro, in denen ein wechselndes Personal Sätze aufführt, die die Tatsachen der Liebe, des Todes und der Paranoia interpretieren.

NORMALSATZ bildet zusammen mit den Filmen DIE BASIS DES MAKE-UP und DIE WIESE DER SACHEN die Trilogie der Siebziger Jahre.

Streaming-Info

Der Film ist über unseren Vimeo-Kanal zum Leihen oder Kaufen erhältlich.
Sprache: Deutsch, Englisch (ohne Untertitel)

Pressestimmen

In Heinz Emigholz’ Film NORMALSATZ produzieren Menschen keine embryonal-sexuellen Abhängigkeiten, um sich ihrer Situation zu vergewissern: Sie begreifen sich vielmehr als Durchreisende in einer von einem überkommenen Raum-Zeit-Bewußtsein geprägten Welt. Die Evolution ist so weit, wie wir sie begreifen. Das Unbegreifliche begreift uns dennoch. Diese Dinglichkeit pulsiert durch alle Moleküle des Films. (Hannes Hatje, taz, 16. April 1982)

NORMALSATZ von Heinz Emigholz ist ein großer Film der Nähe, die mit dem Geografischen nichts zu tun hat. Dergleichen Hierarchie ist wie die der Haupt- und Zweitkulturen abgeschafft: Emigholz schafft sie im Normalsatz ab. Am 30. April 1975 - Normalsatz ist von 1978 bis 1981 gedreht - kommen ‘am ersten Tag des Friedens’ Brooklyn und Hamburg zusammen. In Brookburg wird im Büro der Erinnerung ‘Deutschland’ gespielt. Wie die Namen verschwimmen in Emigholz’ Film Vorder- und Hintergrund. Die Herrschaft von Horizont und Vertikalen ist ins Wanken geraten. Was auf den Bildern zu sehen ist, sind Menschen, viele Menschen (Carola Regnier und Bernd Broaderup spielen auch in Macumba mit), genauer: Köpfe, Beine, Füße, und die respektieren den Bildausschnitt nicht. Das Zentrum des Bilds ist an die Ränder gerutscht. Der Rand ist das Zentrum und damit keins mehr. Die Köpfe, Hände, Füße, der Tisch, der Monitpr, das Fenster: sie entwickeln sich über den Bildrand hinaus nach eigenen Gesetzen. So entsteht im Normalsatz ein anarchischer Raum. Man braucht das nicht zu interpretieren. Emigholz, Zeichner, Fotograf, hat den vielen Sätzen, die gesprochen werden, den Raum genommen, wo sie herrschen können. Sie werden im anarchischen Raum zum Wahnsinn, der den Brookburg-Bewohnern zum Abenteuer des Gleichzeitigen verhilft. (Dietrich Kuhlbrodt, epd Film, April 1982)

Wenn man an einem Zipfel zieht, hat man das ganze Laken in der Hand: in tausend Einzelheiten aufgespalten erzählt NORMALSATZ von der bewußten Sehnsucht nach erotischen Beziehungen zum Physischen, dem Dilemma intellektueller Identität, sie in Sprache formulieren zu können und sich in den Klischees davon zu entfernen. (Sprache: in den Beziehungsgeschichten in Normalsatz sind die physischen sexuellen Beziehun-gen nicht dargestellt.) Mit der Erotik der Physik baut der Autor die disparaten Einzelteile im Kino zusammen und macht sie sichtbar als komplexe Struktur. (Claudia Lenssen, Frauen und Film, Juni 1982)

Preise und Festivals

- Berlinale - Internationales Forum des Jungen Films 1982
- Spielfilmpreis der Deutschen Filmkritik 1982

Weitere Texte

Ronald Balczuweit

Phänomenologische Rahmung

In der fotografischen Technik waltet ein Prinzip der Bildkonstruktion, das sehr viel älter ist, als diese Technik selbst. Die Rede ist von der zentralperspektivischen Konstruktion, die im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit die Malerei revolutionierte und jene Regeln festschrieb, nach denen die perspektivischen Verkürzungen von Körpern im Raum bei ihrer Darstellung auf einer zweidimensionalen Fläche sich berechnen lassen. Die Bildebene wurde so zur Sehfläche. Voraussetzung dieses Proportionsgesetzes war die Konstruktion eines abstrakten Augen- bzw. Fluchtpunktes auf den hin alle Raum- und Körperlinien ausgerichtet werden mußten. Damit war eine Spaltung vollzogen, die fortan das körperliche Organ ”Auge” vom Blick ebenso abtrennte, wie sie den Raum, welchen vormals die Dinge überhaupt erst konstituierten, in eine ideale und körperlose, rein geometrische Konstruktion überführte.
„Was wir Sehfläche nennen, entstand erst aus der eingefleischten Gewohnheit der Kulturmenschen, die Welt als Bild zu sehen.” (James J. Gibson). Was den Künstlern der Renaissance noch Bild der Welt im metaphysischen Sinne einer sich im Kunstwerk offenbarenden Idee war, wird im 19. Jahrhundert zum Ideologem der schlichten Abbildbarkeit. Die Medien der technischen Reproduktion konnten nur deshalb die Welt im Bild buchstäblich verdoppeln, weil die imitative Repräsentation mit der Vorstellung von der generellen Abbildbarkeit der Welt ihnen eine ideologische Grundlage geschaffen hatte. Fotografie und Film konnten nur auf diesem Boden ihren rasanten Aufstieg vollziehen und - in einer Art Selbstverstärkung - die Idee von der Welt als einem Bildreservoir verfestigten, aus dem heute Fernsehanstalten und Hobbyfotografen schöpfen. Zunächst mußte die Welt sozusagen selbst zum Bild werden, damit Fotografie, und auch später der Film, Ausschnitte dieser Welt reproduzieren konnten. So kommt schließlich die schiere Abstraktion im Gewand des Konkreten daher. Die Vorstellung von der identischen Abbildbarkeit der Welt bildet die Grundlage für den Glauben an die Unbestechlichkeit der fotografischen Aufnahme.
Die Bildebene wird zum Fenster zur Welt, und statt aus der Beweglichkeit des vom Auge getrennten Blicks auch wirklich die Konsequenzen zu ziehen, wie es spätestens seit dem Aufkommen fotografischer Apparate nahegelegen hätte, wird das im Grunde schon seit der kopernikanischen Wende aus dem Zentrum geschleuderte Subjekt weiterhin in die ”vertikalen und horizontalen Visierstagen des linearperspektivischen Raums” (Wolfgang Kemp) eingespannt. Die zentralperspektivische Konstruktion und ihre Eichung auf die Normalsicht eines aufrecht stehenden Menschen ließe sich demnach auch als Kompensation seines fortschreitenden Bedeutungsverlustes lesen.
Den Raum als leeren Rahmen, in den die Dinge nur noch hineingestellt werden müssen, verwandelt die ”schräge Kamera” in den Filmen von Heinz Emigholz nicht nur in eine Skurilität, was die hierarchisierende Funktion der Bildebene zwar ironisieren, sie aber dennoch intakt lassen würde. Selbstverständlich ist es auch dieser Art der Kadrierung unmöglich, die Konvention der Perspektive aufzuheben, die im Objektiv der Kamera fest verankert ist. Jedoch instruiert die Kadrierung einen Prozess gegen die Hierarchisierung der dargestellten Objekte und Personen in einem leeren, aber gerade deshalb umso machtvolleren Raum. Oft ist nicht allein der traditionelle Kamerablick aus dem Lot geraten, auch Bilder hängen schräg an der Wand, wie in NORMALSATZ, oder Möbelstücke sind auf die Seite gekippt, wie die Kommode in der Galerieszene zu Beginn von DER ZYNISCHE KÖRPER.
Die Bilder sind, auch wenn die traditionelle Hierarchie zwischen Vordergrund und Hintergrund aufgehoben wird, deswegen nicht flach. Denn auch wenn der dreidimensionale Raum auf die Ebene projiziert wird, bleibt er doch in ihr spürbar. Die Filmfotografie reproduziert nicht, sie zerstört auch nicht, sie behandelt die zweidimensionale Fläche des Bildes als eine Möglichkeit, den Raum zu gestalten. „Raumgestaltung ist jede Auseinandersetzung der zwei Dimensionen der Ebene mit der dritten Dimension der Tiefe. Eine solche Auseinandersetzung ist nicht vorhanden, wenn man die Beziehung auf die dritte Dimension ausschaltet; sie ist aber auch dann nicht vorhanden, wenn man die Beziehung der Tiefe auf die Ebene ausschaltet, wie dies in der Perspektive der Fall ist.” (Max Raphael: Raum-gestaltungen).
Spannungsverhältnisse werden somit aus ihrer starren Vordergrund-Hintergrund-Beziehung befreit, im Raum Getrenntes kann auf der Bildebene zusammengerückt werden, ohne dass damit ihre räumliche Distanz vollkommen aufgehoben wäre. So entstehen überhaupt erst wahre Spannungsverhältnisse entgegen der zentraplerspektivischen, binären Logik des Nah und Fern. Dabei geht es nicht um eine expressive Übersteigerung der abgebildeten Dinge. Vielmehr rückt die Expressivität ins Zentrum des Bildes selbst - des Bildes als Fläche und Struktur, nicht als Repräsentation. Die Form wird gewissermaßen inhaltlich. „Wenn die Objekte der Wahrnehmung in einem Zusammenhang fixiert werden, der das Achsensystem des zentralperspektivischen Raums bewusst negiert, dann werden sie automatisch an den Vertikalen und Horizontalen des Rahmens orientiert im Sinne einer dynamischen Geometrie, einer spannungsgeladenen Auseinandersetzung flächiger und linearer Kompo-nenten (...): das Sehen, das sie jetzt festlegt, orientiert sich an einer scheinbar neutralen Instanz, an der Immanenz des Bildes, man könnte auch sagen: an sich selbst.” (Wolfgang Kemp: Fotoessays). Das Sehen derart an der Immanenz des Bildes zu orientieren, heißt im Grunde, das Sehen als ein Lesen herauszufordern.
Statt leerer Raum zu sein, dessen Koordinaten an der abstrakten Geometrie entlehnten Kategorien wie Horizontlinie und Fluchtpunkt festgemacht sind, ist der Bildraum in den Filmen immer schon bevölkert. Wo ein Raum ist, ist auch ein Körper, der diesen definiert, und sei es durch seine negative Form, die Abwesenheit. Wie die bloßen, weißen Stellen der Leinwand in den Bildern Cézannes ist der negative Raum nicht einfach ausgespart, sondern mit Leere gefüllt. Es ist ein Raum geschaffen, der es der Wahrnehmung ermöglicht, das vermeintlich Ausgesparte als mit Leere gefüllte zu lesen, das Bild wie ein Vexierbild zu betrachten. Die Frage ”Was ist es?” wird am Vexierbild gegenstandslos und abgelöst durch die Frage ”Was bewirkt es?” Auch das Vexierbild ist mal Dieses und mal Jenes, es existiert in der Zeit, und Sehen bedeutet stets auch das Gesehene als Etwas zu denken. In diesem Sinne ist das Sehen niemals unschuldig, sondern immer schon ein Denken.
Schon das Kino Eisensteins baute keineswegs auf die symbolische Verkettung an sich signifikanter Einheiten. Auch ihm war an der Produktion von Bedeutung gelegen, nicht an der Virtuosität im Ziehen bereits vorhandener Register. Der Film war ihm sinnliches Denken in actu. Der scheinbaren Voraussetzungslosigkeit des physischen Sehvermögens gegenüber, die immer schon ist, wovon sie sich abzusetzen vermeint, nämlich ideologische Projektion, beharrte er auf einer organischen Bedeutungskonstitution, der Künstlichkeit und Natürlichkeit keine unvereinbaren Gegensätze sind. Das Bild galt ihm daher nicht als Element der Montage, sondern als ”Zelle”. Die Montage ist folglich keine bloße Juxtaposition von Einstellungen, sondern potentiell schon im Bewegungs-Bild enthalten, insofern dies stets im Begriff ist, die gegebene Form zu überschreiten. Das nannte Eisenstein ”Konflikt-Montage”.
Die Leinwand selbst ist es, die den Dingen ihr Maß gibt, ohne sie zu korsettieren. Aufgrund seines beweglichen Maßes und seiner ständigen Selbstüberschreitung, ist das Filmbild mal weiter, mal enger, mal mehr oder weniger gefüllt oder entleert, niemals jedoch näher oder ferner. Weder Fenster zur Welt, noch deren negatives Pendant, die Bazin‘sche Maske, die mehr von der Welt zurückhält, als sie zur Ansicht freigibt, ist die Form des Filmbildes vielmehr ein phänomenologischer Rahmen, der weder ein- noch ausgrenzt. Das Bild wird gewissermaßen von seinem eigenen Gehalt gerahmt und konstruiert sich sein eigenes ”jenseits”.
”Die Kinoleinwand ist nicht wie die Leinwand des Gemäldes, sie ist kein Untergrund. Es gibt nichts, was darauf aufzutragen wäre. Sie hält eine Projektion, so leicht wie Licht. Die Kinoleinwand ist eine Barriere (...) sie hat keinen Rahmen, das heißt, sie hat keine Grenzen. Ihre Seiten sind nicht die Seiten einer bestimmten Form, als vielmehr das Fassungsvermögen oder das Volumen eines Behälters Die Kinoleinwand ist der Rahmen, der Rahmen ist das ganze Feld der fotografischen Aufnahme (...), wie ein Webrahmen oder ein Haus. In diesem Sinne ist der Leinwandrahmen eine Hohlform.” (Stanley Cavell: The World Viewed)
Weil es ein Licht-Bild ist, ist von der Form des Filmbildes, ähnlich wie bei der architektonischen Form, nur in Begriffen der Fülle zu sprechen. ”Während die gebaute Raumgrenze materiell das fest Geformte des Raumes darstellt, bringt das wandernde, sich ausbreitende und konturlos fließende Licht dessen Substanzlosigkeit zur Sprache. Die antithetischen Elemente von 'Fülle' und 'Form' gehen dabei vielfältige Synthesen ein (...). Je stärker der Einfluß des Lichtes, auch als Abwesendes, desto mehr verliert die feste Form der Raumgrenze an Eigenwert. (...) Die 'Raum-Fülle' hat die 'Raum-Form' verschluckt.” (Inge Habig und Kurt Jaußlin: Die Ordnung des Ästhetischen).

Quelle: pym.de/de/filme/normalsatz

Credits

Regie, Kamera und Schnitt
Heinz Emigholz
Mit
Sheila McLaughlin, Hannes Hatje, Lynne Tillman, Silke Grossmann, Peter Blegvad, Marcia Bronstein, Carla Liss, Carola Regnier, Kiev Stingl, Hilka Nordhausen, David Marc, John Erdman, Heinz Emigholz, Martha Wilson, Klaus Wyborny, Christoph Derschau, Ann Knutson, Bernd Broaderup
Buch
Heinz Emigholz ("Straight Off the Movies" von David Marc, "The Interpretation of Facts" von Lynne Tillman, "Specimen of Table-Model Talk" von Daniel Czitrom und David Marc), Zeichnungen von Peter Blegvad
Ton
Marcia Bronstein, Gabriel Berdé, Vincenz Nola
Mischung
Richard Borowski
Produzent
Heinz Emigholz
Produziert von
Pym Films
Mit Hilfe von
Silke Grossmann, Marcia Bronstein, Hannes Hatje, Elfi Mikesch, Sheila McLaughlin, Peter Blegvad, Cynthia Beatt, Renée Shafransky, Anke Rixa-Hansen, Rüdiger Neumann, Helene Kaplan, Helmut Herbst, Elke Granke, Street Visions, B-Pictures, Buch Handlung Welt, BMI, Rafik, Filmhaus Hamburg, Millenium, Henry, Raw Magazine und Paranoids Anonymous Newsletter
Uraufführung (DE)
16.02.1982, Berlinale - Forum

Kinoverleih-Infos

Verleihkopien
DCP (2K, 25fps, 5.1)
16mm (über Arsenal - Institut für Film und Videokunst)
Bildformat
DCP: 16:9 / 16mm, 1:1,37, s/w und Farbe
Sprache
Deutsch, Englisch
Lizenzgebiet
Weltweit