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Parabeton – Pier Luigi Nervi und römischer Beton

D 2012, 100 min

PARABETON zeigt in chronologischer Abfolge 17 in Italien und Frankreich noch erhaltene Bauwerke des italienischen Bauingenieurs Pier Luigi Nervi (1891-1979). Der Film verbindet Nervis kühne Konstruktionen mit filmischen Studien antiker Bauten aus römischem Beton.

Synopsis

PARABETON beginnt mit dem ersten, noch existierenden Kuppelbau aus römischem Beton in Baiae bei Neapel, erbaut im ersten Jahrhundert vor Christi. Dann folgen in chronologischer Abfolge 17 in Italien und Frankreich noch erhaltene Bauwerke des italienischen Bauingenieurs Pier Luigi Nervi (1891-1979). Nervi ist als Erfinder stilbildender Konstruktionen der Großmeister des Betonbaus und der Architect’s Architect des 20. Jahrhunderts. Unterbrochen wird die Abfolge der Nervi-Bauten durch filmische Studien antiker Bauten aus römischem Beton aus den ersten Jahrhunderten nach Christi.

PARABETON bildet mit seinem Rückbezug des Konstruktionskerns der Moderne auf die Betonbauten der Antike das vorweggenommene Finale der Serie ARCHITEKTUR ALS AUTOBIOGRAPHIE. Er ist zugleich der erste Teil der mehrteiligen Serie AUFBRUCH DER MODERNE, zu der auch PERRET IN FRANKREICH UND ALGERIEN und THE AIRSTRIP gehören.

Streaming-Info

Der Film ist über unseren Vimeo-Kanal zum Leihen oder Kaufen erhältlich. Weitere Anbieter siehe „Film kaufen“.
Sprache: Kein Dialog

Pressestimmen

Beton, die spannungsreiche Materie, wuchtig und doch der elegantesten Schwünge fähig. Heinz Emigholz feiert ihn in ‚Parabeton‘, Nr. 19 in seiner ‚Photographie und jenseits‘-Serie, der erste der abschließenden Abteilung ‚Aufbruch der Moderne‘. Viele Jahre schon präsentiert er die neuen Stücke dieser Serie im Forum der Berlinale, seine Perspektiven im Forum – sie gehören zu den seltenen Momenten, wo man wirklich ein schönes Gefühl von Kontinuität und Konsequenz auf dem Festival spürt. (Fritz Göttler) 

Die Architekturfilme von Heinz Emigholz aus der Reihe „Photographie und jenseits“ transponieren die architektonische Raumerfahrung in eine dem Medium Film eigene Seherfahrung. Architektur wird hier nicht skulptural, tableau- und objekthaft in Szene gesetzt, sondern dem forschenden Blick einer anthropomorphen Filmkamera unterzogen. Dabei wird reziprok der Blick thematisiert, für den die architektonischen Räume und Gebäude sich entwerfen, und damit geht es um Rezeptionsästhetik und Dramaturgie, also dem in der Architektur implizierten Betrachter. (Christine Lang, kino-glaz, 28.02.2012)

Preise und Festivals

- Berlinale Forum, 2012
- BAFICI Buenos Aires Festival Internacional de Cine Independiente, 2012
- European Media Art Festival Osnabrueck, 2012
- Villa Romana, Florenz, 2012
- Kaunas IFF Litauen, 2012
- Vancouver International Film Festival, 2012
- Viennale – Vienna International Film Festival, 2012
- Underdox Filmfestival, 2012
- Film Fest Gent, 2012
- International Environmental Film Festival Paris, 2013
- Dokumentarfilmwoche Hamburg, 2013

Weitere Texte

Statement des Regisseurs Heinz Emigholz

PARABETON beginnt mit dem ersten, noch existierenden Kuppelbau aus römischem Beton in Baiae bei Neapel, erbaut im 1. Jahrhundert vor Christi. Dann folgen in chronologischer Abfolge siebzehn in Italien und Frankreich noch erhaltene Bauwerke des italienischen Bauingenieurs Pier Luigi Nervi (1891-1979). Nervi ist als Erfinder stilbildender Konstruktionen der Großmeister des Betonbaus und der Architect’s Architect des 20. Jahrhunderts. Unterbrochen wird die Abfolge der Nervi-Bauten durch filmische Studien antiker Bauten aus römischem Beton aus den ersten Jahrhunderten nach Christi. Der Film verbindet damit Nervis kühne Konstruktionen mit den bahnbrechenden römischen Erfindungen von vor zweitausend Jahren.
Der 100-minütige Film PARABETON ist der erste des mehrteiligen Projektes AUFBRUCH DER MODERNE, mit dem ich meine Filmserie ARCHITEKTUR ALS AUTOBIOGRAPHIE über die Ursprünge, das Schicksal, den Triumph und das Zerbrechen der architektonischen Moderne abschließen werde.
Der zweite Teil des Projektes wird Bauten des französischen Architekten Auguste Perret in Frankreich und Algerien zeigen, die ich ebenfalls im Frühjahr 2011 aufgenommen habe. Perret hat den Betonbau in seinen Ensembles und Gestaltungen meisterlich verfeinert und zu einem klassischen Ausdruck gebracht. PARABETON bildet mit seinem Rückbezug des Konstruktionskerns der Moderne auf die Betonbauten der Antike das vorweggenommene Finale der Serie ARCHITEKTUR ALS AUTOBIOGRAPHIE.

Pier Luigi Nervi

Pier Luigi Nervi (1891-1979) erwarb 1913 das Ingenieursdiplom und hat sich sein Leben lang als Baukonstrukteur und nicht als Architekt empfunden und bezeichnet. Er begriff die Baukonstruktion als Kunst und Wissenschaft. Seit Anfang der 1930er Jahre hat er extreme Dach- und Kuppelkonstruktionen und Tragwerke aus Beton für Großbauten entworfen und ausgeführt. Als genialer Betonkonstrukteur und Tragwerksplaner hat er auch immer wieder bei Großbauten mit anderen Architekten zusammengearbeitet. Seine eigenen Entwürfe und Erfindungen sind bis heute stilbildend für den Bau von Stadien, Hallen und Hochhäusern geblieben – auskragende Dachkonstruktionen, fliegende und weit ausschwingende Wendeltreppen, Gewölbe aus diagonal sich kreuzenden und verstrebten Betonträgern und Tragwerken, strebebogenartige und kreuzförmige Eckstützen, gerippte Betonelemente und segelförmige, auch trianguläre, Betonkonstruktionen für säulenlose Kuppeldächer. Er nutzte die Erkenntnisse der Geometrie für die Entwicklung einer neuartigen Schalenbauweise und erzeugte räumliche Gitterwerke aus Betonrippen mit aufgelegten Betonflächen. Dazu entwickelte Nervi ein kostengünstiges, ökonomisches Bauen mit vorgefertigten Betonmodulen. Seine netzartigen Gewölbe erzeugen aus verschiedenen Perspektiven immer neue, nahezu ornamentale, moiréhafte Ansichten. Die durch die Stahlgerüstbauweise möglich gewordene Trennung von Dekoration und Funktion wird bei Nervi wie auch bei Maillart abgelöst durch eine gestaltende Formgebung des Stahlbetons, in der die tragenden Teile selbst wieder in Ausübung ihrer Funktion komplizierte geometrische Muster ergeben. Diese vom Standpunkt des Betrachters abhängenden Muster können auch als eine sich dem Material verdankende Ornamentik verstanden werden.

Interview zu PARABETON
Hanns Zischler im Gespräch mit Heinz Emigholz (09.01.2012)

Hanns Zischler: Begeistert hat mich der große Bogen, der Spannungsbereich zwischen römischem Zement oder Beton und der Arbeit des Bauingenieurs Nervi. Nervi nimmt ja etwas auf oder vollendet auch, was historisch lange tradiert war, aber baugeschichtlich im Bewusstsein vieler überhaupt nicht mehr vorhanden ist.

Heinz Emigholz: Daß die Römer den Beton oder den Zement erfunden bzw. experimentell entwickelt haben, ist kein Allgemeinwissen. Der Pantheon in Rom war zweitausend Jahre lang die größte Kuppel aus gegossenem Beton. Sie wurde erst 1913 abgelöst von der Jahrhunderthalle in Breslau von Max Berg. Das hat mich absolut in Erstaunen gesetzt.

Wie sind Sie auf das Thema gekommen?

Ein monografischer Film zu Nervis Bauten stand seit 1993 auf meinem Editionsplan für Photographie und jenseits. Die Idee, die antiken Großbauten damit in Beziehung zu setzen, kam erst später dazu. Sie wissen ja, dass ich mich für die Pazifikschlacht im II. Weltkrieg interessiere. Ich fahre jetzt, um die Serie zum Abschluss zu bringen, nach Tinian und Saipan auf den Nördlichen Marianen, um da das Betonflugfeld zu filmen, von dem aus die Atombomben nach Japan abgeflogen sind. Das ist für mich das Ende meiner Architekturserie. Ich bin bei meiner Recherche über die Landung der Amerikaner auf Saipan auf die Webseite des Kriegsveteranen David Moore gestoßen, der damals dabei war. Auf seiner Webseite gibt es drei Themen: Landung auf Saipan, Prostatakrebs und der Pantheon in Rom. Nach seiner Karriere als Bauingenieur hat er in Rom den Pantheon besichtigt. Plötzlich sei ihm bewusst geworden, dass dessen Kuppel 2000 Jahre unbeschadet steht und er habe sich die Frage gestellt, was für ein großartiges Baumaterial das denn sei. Er hat dann die genaue Zusammensetzung des Betons analysiert, mit dem die römischen Baulegionäre gearbeitet haben, ihre Bauweisen, ihre Formeln usw. Sein Buch ist bei der University of Guam erschienen (The Roman Pantheon: The Triumph of Concrete, 1995) und macht historisch klar, wie die Römer den Beton entwickelt haben. Wenn man die grandiosen Ausmaße dieser Bauten sieht – Tivoli, Caracalla Thermen, Pantheon, Aqua Claudia, – dann weiß man auch, woher die großen Bauingenieure den Nerv geerbt haben, so etwas in die Welt zu setzen.

Es gibt meines Erachtens sehr wenige Ingenieure, die so wie Nervi oder Robert Maillart derart kühn und präzise mit diesem Werkstoff umgehen konnten.

Die Berufsbezeichnung Architekt war für Nervi ein Schimpfwort. Es geht um die Bauingenieurskunst und darum, Wissenschaft und Gestaltung in der praktischen Arbeit zu vereinen. Er hat ja bei jedem Bauwerk ein sehr großes Modell gebaut, um Tragsysteme experimentell zu erproben, beispielsweise für das Pirelli Hochhaus in Mailand.

Bei Maillart sind es die Brücken, deren Tragfähigkeit er experimentell bestimmt hat. Das Eindrucksvolle bei beiden ist der Blick und das Wissen. Der Werkstoff gibt die Form in einer bestimmten Weise vor.

Maillart und Nervi haben in sehr kurzer Zeit die Grammatik einer dem Material angemessenen Gestaltung entwickelt. Maillart hat konsequent analysiert, welche Formen sich aus den Kraftlinien ergeben, und ist zu einer extremen Eleganz in seiner Gestaltung gelangt. Bei Nervi kommt die modulare Bauweise, auch der Einrüstungen, hinzu. Sehen Sie sich die Decken in den römischen Sportpalästen an, oder die der Hallen in Turin. Die sind aus vorfabrizierten Modulen vor Ort zusammengesetzt worden. Das ist Kunst und Wissenschaft auf höchstem Niveau.

Was mich an Ihrem Film interessiert, ist das Tempo oder der Rhythmus des Schnitts. Für mich bewirkt er eine Serie von Nachbildern auf der Netzhaut. Das heißt, es gibt ja manchmal relativ kurze Schnittfolgen. Da man sie beim Sehen verarbeiten muss, wird bewirkt, dass man die Nachbilder noch abspeichert oder betrachtet, während der Film weiterläuft. Das gibt eine seltsame Überlagerung, die fast so etwas wie ein Spannungsgefüge zwischen Bildern ist, als würden Sie quasi mit den Bildern auch etwas bauen.

Ich sage ja immer: Kameraarbeit ist eine quasi architektonische Tätigkeit. Ihr Ergebnis ist eine virtuelle Architektur, die im Kopf entsteht, abhängig davon, wie gefilmt und geschnitten wurde. Es fängt ja immer sehr simpel an in diesen Filmen, wie eine Addition von Einstellungen. Das Prinzip ist einfach: Ich mache eine chronologische Abfolge der Gebäude, und ich imitiere im Schnitt so etwas wie einen Gang durch, um das Gebäude herum oder wieder heraus. Das ist bei jedem Objekt anders. Das wird auch nicht vor Ort entschieden. Ich muss aber an jedem Ort das Gefühl haben, ich habe das Gebäude kinematographisch erfaßt. Am Schneidetisch lege ich dann den genauen Gang fest. Ich filme aber so, dass es in jeder Einstellung eine Verbindung zur nächsten gibt. Ich will keine Tableaus gestalten, die für sich stehen. Es muss in einer Einstellung etwas drin sein, was in der nächsten fortgesetzt wird, von einem anderen Winkel aus gesehen, kleiner, größer etc. Es muss einen Zusammenhang geben, damit Sie als Zuschauer sich den Raum wieder rekonstruieren können in der Zeit.

Man könnte das, im übertragenen Sinn, ein Konstruktionsprinzip nennen, das auch für einen Bauingenieur gilt.

Ich habe wenig Ahnung, wie man einen dreidimensionalen Entwurf anfertigt oder umsetzt. Was mich aber nahezu manisch interessiert ist, dreidimensionale Situationen und Gegebenheiten auf einer Bildfläche wiederzugeben. Das ist ein filmfotografischer Akt. Die einzelne Einstellung muss dabei in ihrer Komposition und Gewichtung stimmen. Mich interessiert Architekturfotografie, also Tableaus zu machen – womöglich mit Weitwinkel, um alles zu erfassen – überhaupt nicht. Ich will eine normale, menschliche Sichtweise, das Normalobjektiv, nachvollziehbare Zusammenhänge, also wie ich von Hier nach Dort komme. Man addiert Einstellungen im Gehirn auf, und nach einer Weile passiert diese komplexe Schichtung. Sie gehen langsam durch ein Gebäude, und dann kommt die Erinnerung, wie Sie da hineingekommen sind, wie der Raum zuerst gewirkt hat, wie er sich dann verändert hat. Sie können dann nicht mehr sagen, dass das eine simple Addition von Einstellungen ist, sondern es geschieht etwas Anderes: Das Gebäude wird im Kopf rekonstruiert.

Das heißt, und das ist die Kunst des Schnitts: Wenn Sie dieses Prinzip der Bildanschlüsse in Ihrer Konstruktion befolgen, entsteht ein Gebäude. Man kann ja auch den Umkehrschluss durchaus machen: Wenn man nicht auf diese Anschlüsse im Bild achtet, dann kommt das Gebäude im Kopf nicht zu Stande.

Bei der Konstruktion des Gebäudes im Kopf hilft auch der Ton. Damit gehen wir sehr sorgfältig um und sagen: Hier oben, auf der ersten Empore in der Halle in Turin zum Beispiel, ist ein anderer Ton als unten in der Halle. Wir nehmen den Ton von den jeweiligen Einstellungen und dann setzen wir das zusammen. Der Ton erzeugt die Linearität des Durchgangs. Es wäre sinnlos, harte Tonschnitte zu machen. Aber es wird sehr genau gearbeitet, um diese Tonmodulationen zu gestalten. Der Raum moduliert den Ton ja ebenso.

Der Ton ist besonders schön. Mehr als die Hälfte ist Vogelgesang mit schönen Begleiteffekten. Zu diesen Nachbildern hat es einen Levitationseffekt für das Ohr. Das heißt, die Vogelstimmen heben den Beton auch. Was bei Nervi auffällt, seine Bauwerke wirken nie schwer. Das was der Mann macht, ist Antigravitation.

Beim Kleinen Sportpalast sehen Sie die tragenden Teile kaum. Sie denken, das Dach schwebt, weil Sie die tragenden Pfeiler, die Streben von innen gar nicht sehen. Das Gebäude scheint über der Glaswand aufzuhören. Auch von Außen wirkt es wie ein riesiges Zelt, das fliegt.

Da gibt es für mich noch eine Verstärkung durch den Ton, besonders schön auch in den Wechseln und im Turiner Palazzo del Lavoro. Das ist ein verlassener, schmutziger Taubenkäfig, eine fast dramatische Sequenz, die wahrscheinlich etwas länger als andere ist.

Jedes Gebäude entwickelt seine eigene Zeit. Gewisse Längenentscheidungen werden durch das Gebäude erzählt und vorgegeben, wenn man richtig hinguckt. Wenn ich gefragt werde, wie lange die Einstellungen sind, kann ich das nie sagen. Denn wir sehen beim Schnitt so lange hin, bis wir das Bild begriffen haben. Auch beim Aufnehmen mache ich das. Es gibt also kürzere Einstellungen, bei denen ich denke, die sind schneller zu begreifen als andere, die komplexer sind. Danach wird die Länge bestimmt und nicht nach irgendeinem mathematischen Prinzip. Es geht immer um den gefilmten Gegenstand, und das ist das absolut Befriedigende dabei. Dreharbeiten sind die einzigen Zeiten in meinem Leben, in denen mein Gehirn zu hundert Prozent anwesend und zu Entscheidungen fähig ist.

Osip Mandelstam sagte einmal: Bauen heißt den Raum hypnotisieren. Wie können Sie das Dreidimensionale, das da vor Ihnen steht, in die gefilmte Fotografie bringen? Von daher ist für Sie, dass unterstelle ich mal, 3D keine Option.

Nein, wäre es nicht. Ich müsste völlig neu darüber nachdenken. Ich habe aber bis jetzt nie das Bedürfnis gehabt, zu denken, dass da jetzt etwas wesentlich fehlt. Ich habe ein Rechteck, das ist flächig. Ich kann die Illusion von 3D ohne Hilfsmittel erzeugen. Wichtig ist mir die Bildauflösung. Also, dass ich nicht ein Medium habe, wie schlechtes Video oder 16 Millimeter, wo Sie die Abstände zwischen den Dingen, die Sie auf einer Fläche zusammenbringen, gar nicht darstellen können, wo sie die verschiedenen Materialien gar nicht mehr identifizieren können. Sie müssen den Raum in seiner ganzen Dimensionalität erfassen können. Und dann – ich mache ja auch eine ganz spezielle Filmfotografie –  muss das Gehirn diesen Raum wieder zusammensetzen. Diese Arbeit muss man vom Zuschauer fordern, und dann wird es 3D.

Ich hatte auch nie das Bedürfnis, es in 3D zu sehen. Mich hat eher die konstruktive Abfolge in bestimmten Momenten an Ihre Zeichnungen erinnert. Und zwar deshalb, weil es in Ihren Zeichnungen ja auch ein sehr starkes und dichtes Moment von Überlagerungen gibt, von Durchdringen, Überlagerungen, auch von Spannungsfeldern. Alles in einem quadratischen Feld, das man komplett erfasst und sich dann auf die Einzelheiten konzentriert. Der Blick wandert in den jeweiligen Bezügen, beziehungsweise, wird ja auch geleitet durch Pfeile, durch Punktierungen, durch Raster usw. Das ist für mich eigentlich ein Punkt, quasi der Sprung zurück.

Seltsamerweise kann ich die Verbindung nicht ziehen. Wenn ich einen Film drehe, ist mein Gehirn auf ganz andere Weise beschäftigt, als wenn ich zeichne. Ich glaube an die Oberflächen, die beim Filmemachen eigentlich den Kern erzählen, und brauche nichts dahinter. Ich komponiere Oberflächen, indem ich sie im Blick zusammenführe. Was mich beim Film, anders als beim Zeichnen, nicht interessiert, sind assoziative Collagen, also etwas innerhalb eines Bildes zu montieren. Die Abfolge der Bilder ist zwar montiert, und dadurch entsteht auch diese Schichtung von der Sie vorhin gesprochen haben. Aber diese Montage würde ich nie innerhalb eines Bildes machen. Beim Film interessiert mich die intakte fotografische Oberfläche der einzelnen Einstellung. Wie wir durch die Welt gehen, setzen wir sie uns zusammen. Der Kopf kann ja nur an einer bestimmten Stelle sein, an der auch gerade kein anderer sein kann. Ich sehe eine Oberflächenkonstellation von einem ganz bestimmten Punkt aus. Das ist das, was mich daran so befriedigt, daß man diesen Punkt finden kann und dann eine bestimmte Zeitspanne im Licht passieren lässt. Es wird ja auch nicht jederzeit gedreht, sondern ein Zeitpunkt ausgewählt, an dem das Licht stimmt. Ich möchte auch kein künstliches Licht machen, sondern den Ort so nehmen, wie der Architekt, der sich ja auch über Lichtmodulationen Gedanken gemacht hat, bestimmt hat. Ich montiere etwas Wirkliches, in dem ich beim Komponieren des Bildes verschiedene Ebenen zusammenschiebe. Aber ich lasse den Blick, den ich von einem bestimmten Punkt aus habe, intakt und sage nicht gleichzeitig: Ich könnte noch etwas anderes dazu mischen, sozusagen durch eine interne Bildbearbeitung. Bei Zeichnungen sehe ich etwas Transparentes, da habe ich eine Riesenlust dazu. Da sehe ich Linien, und was zwischen den Linien ist, muss auch angefüllt werden mit Projektionen. Nahezu mittelalterliche Bedeutungsperspektiven sind das dann.

Kommen wir noch mal auf diese Sache mit dem Werkstoff zurück. Ihre anderen Filme haben sich ja, zum Beispiel LOOS ORNAMENTAL oder auch die amerikanischen Filme, mit den Arbeiten, also den Gebäuden, dieser Architekten beschäftigt. Bei Loos ist es eine Autobiografie. Bei Nervi ist der Star der Werkstoff, der von Nervi in dieser Weise erkannt und zu dieser Entfaltung gebracht worden ist. Sie haben eingangs schon erwähnt, dass die „Enola Gay“ beziehungsweise, die Piste für Hiroshima und Nagasaki der Abschluss für Sie ist. Gibt es so etwas wie eine Drift von der Architektur in den Werkstoff?

Am Anfang dieses Projektes, 1993, standen alle Architekten schon fest: Nervi, Barragán, den ich jetzt leider aus rechtlichen Gründen nicht machen darf, Schindler, Goff, Loos, Maillart und Sullivan. Sullivan war der Ausgangspunkt. Es waren die durch den Stahlkäfig möglich gewordenen Bauweisen, bei denen die Fassaden nicht mehr tragen müssen, die zu einer freien Gestaltung der Fassaden führten. Ein Paradigmenwechsel. Die Betonleute setzten dazu völlig neu durchdachte und gestaltete Trägersysteme in die Welt. Bei Maillart war es für mich das Dach des Bahnhofs in Chiasso. Das habe ich nicht begriffen. Das, was trägt, dachte ich, hängt. Das mußte mir erst mal ein Bauingenieur, erklären, was daran trägt. Ich konnte es als Laie nicht begreifen, als ich diesen Bahnhof zuerst sah, war aber völlig fasziniert davon, und dann natürlich von dem Baustoff, der solch ungewöhnliche Konstruktionen möglich macht. Die Liste der Leute, deren Werke ich gefilmt habe, stand früh fest. Nur passte nicht alles, wie einmal geplant, in einen einzigen Film. Es sind jetzt, mit allen Kurzfilmen, über sechzig Filme geworden. Dieser Film ist der drittletzte. Es wird noch einen zu Auguste Perret geben. Den habe ich schon gedreht, in Algerien und in Frankreich, und dann noch einen abschließenden Film mit dem Titel AUFBRUCH DER MODERNE. Der entstand aus dem Projekt zu Luis Barragán, bei dem mir absolute Hürden in den Weg gelegt wurden. Es wird ein Essay darüber, warum man solche Filme wie den vorliegenden eigentlich nicht mehr machen kann. Denn das wird jetzt verhindert von sogenannten Bildrechten an Gebäuden. Rechte an Bildern, die noch gar nicht existieren, ein logischer Unsinn ist das. Die Barragán Foundation, die zu hundert Prozent der Firma Vitra Design in der Schweiz gehört und die angeblich die Bildrechte an den Barragán-Gebäuden erworben hat, verbietet mir das unter Strafandrohung. Logisch bedeutet das, Sie können im Grunde nirgendwo mehr einen Dokumentarfilm über Architekturen drehen. Wir können nur noch Fiktion machen. Jeder hergelaufene Fritze, der behauptet, er habe Bildrechte an Gebäuden erworben, kann das verhindern. Aktive Bildzensur durch Kapitalisierung imaginärer Rechte ist das.

Mit anderen Worten, bei einem bestimmten reproduzierten Blick, Fotografie, Film, auf ein Haus, auf ein Gebäude von einem Architekten, wird Ihnen vorgeschrieben: Entweder Sie zahlen so und so viel oder Sie dürfen es nicht filmen.

Das erste Mal, bei dem mir das Problem über den Weg gelaufen ist, war beim Loos-Film. Da gibt es die von ihm erbaute Villa am Genfer See, in der jetzt eine ominöse Loos Foundation haust. Die läßt seit Jahrzehnten keinen Fotografen mehr auf ihr Gelände. Und wem gehört sie: einem Waffenhändler. Es ist ein Elend mit diesen Stiftungen oder Foundations. Unter dem Vorwand, das Werk eines Künstlers zu schützen, lässt es sich prima Steuern sparen, und man kann dann auch noch nahe Verwandte mit einem Direktorenposten versorgen. Um den Bogen zu spannen: Den Film zu Auguste Perret habe ich gerade geschnitten, dann kommt AUFBRUCH DER MODERNE, in dem, neben vielen anderen, weltweit verstreuten Bauwerken, auch die Jahrhunderthalle in Breslau erscheint. Der Film fängt mit einem Stück Gras in der Normandie an, und eine Stimme sagt: „Über diese Sache wird kein Gras wachsen.“ Dann kommt der Betonhafen in der Normandie ins Bild, den Churchill während der Invasion dort hat hinschleppen lassen. Das Militär kommt ins Spiel bis hin zur Geschichte von Saipan und Tinian. Ich weiß noch nicht genau, welchen Ausdruck der Film letztlich haben wird. Aber ich habe mir zur Aufgabe gemacht, diesen Abschluss zu machen und zu erzählen, warum solche Filme nicht mehr gemacht werden können. Ich habe gerade noch einmal Glück gehabt in den letzten fünfzehn Jahren, die bisherigen gemacht haben zu können.

Sie sind ja auch Lehrer. Verbindet sich mit diesen Filmen, die natürlich den meisten interessierten Zuschauern eine Welt zeigen, die sie so nicht kennen, weil sie so auf Gebäude nicht blicken oder weil sie so sich anstrengen müssen, erst einmal diesen Blick zu verstehen, eine pädagogische Intention?

Ich habe es abgelehnt, meine Filme zur Grundlage meiner Lehre zu machen. Ich gehe in der Lehre erst einmal von der jeweiligen Motivationslage der Studierenden für ihre eigenen Projekte aus. Aber es geht ja auch immer um die Etablierung eines Raumes in einer filmischen Szene. Egal was die Schauspieler machen, falls welche darin sind. Der Raum einer Sequenz muss etabliert werden. Und da gibt es viel zu diskutieren, mit welchen Mitteln man das machen kann. Wie stelle ich eine Plausibilität eines Zusammenhangs oder der analytischen Einheit eines Raumes und eines Geschehens her? Als Aufgabe ist es nicht schlecht, zu sagen: Filme doch mal dieses Zimmer hier. Es ist eine dreidimensionale Einheit und Sie haben alle sieben Milliarden Möglichkeiten, dieses Zimmer zu filmen, keine Foundation kann Sie daran hindern. Der Kern meiner Lehre ist Bildarbeit und nicht ideologische Arbeit. Die Frage ist: Wie werden ein Bild und eine Bildfolge konstruiert?

Die abwesende Erzählung, das abwesende Spiel, ist sozusagen in den jetzigen Filmen noch vorhanden. Als Betrachter kann ich wie ein Akteur auftreten.

Antonioni hat ja auch das Pirelli-Haus und andere Ensembles gefilmt, an dem Jeanne Moreau oder Monica Vitti vorbeiflanieren. Er lässt sie aus der Story herausspazieren und bleibt doch in dieser. Sie gehen spazieren, und dann zeigt er minutenlang nur noch Architekturen und negative space. Er verliert seine Schauspieler während der Handlung, ohne dass man es bemerkt. Ganz erstaunlich ist das. Und plötzlich sprechen diese Räume, Landschaften und Situationen für sich.

Antonioni war eigentlich der erste, der eine derart vollständige Wertschätzung der Architektur hatte und sich davon in dem Maß überwältigen ließ.

Das ist eine Gleichwertigkeit, und die finde ich als Erzählgrundlage sagenhaft modern. Die meisten Regisseure benutzen ja Architektur nur als Hintergrund, und das auch noch unscharf. Die Architektur zu einem gleichwertigen Protagonisten zu machen, das ist nicht zuletzt sein Verdienst.

Credits

Buch, Regie und Kamera
Heinz Emigholz
Kameraassistenz und Postproduktion
Till Beckmann
Schnitt
Heinz Emigholz, Till Beckmann
Tongestaltung
Christian Obermaier
Tonmischung
Stefan Konken
Produktionsassistenz
Luca Pisciotta, Markus Ruff
Produzent_innen
Frieder Schlaich, Irene von Alberti
Produziert von
Filmgalerie 451
In Koproduktion mit
WDR/3sat (Reinhard Wulf)
Gefördert von
Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien - BKM, Medienboard Berlin-Brandenburg und Filmförderung Hamburg-Schleswig-Holstein
Uraufführung (DE)
12.02.2012, Berlinale Forum
Kinostart
31.05.2012

DVD-Infos

Extras
SCHATTENFILM (72 min) mit zusätzliche Einstellungen, Gebäude einzeln anwählbar, Presseheft
Sprache
Internationale Fassung (kein Dialog)
Ländercode
Code-free
System
NTSC / Farbe
Laufzeit
100 min + 72 min Extras
Bildformat
16:9
Tonformat
DD 5.1 + 2.0
Inhalt
Softbox (Set-Inhalt: 2), DVD und Blu-ray Disc zum Film
Veröffentlichung
15.03.2013
FSK
Info-Programm gemäß §14 JuSchG

Kinoverleih-Infos

Verleihkopien
DCP (2K, 24fps, 5.1)
Blu-ray Disc (HD)
Bildformat
HD, 1:1, 85
Sprache
Internationale Fassung (kein Dialog)
Werbematerial
A1-Poster
Lizenzgebiet
Weltweit
FSK
Info-Programm gemäß §14 JuSchG