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Kunst und Gemüse, A. Hipler

D 2004, 283 min

Schlingensiefs Abrechnung mit Bayreuth.

Synopsis

KUNST UND GEMÜSE ist nach Schlingensiefs PARSIFAL in Bayreuth der Versuch, sich angesichts seiner als traumatisch empfundenen Erlebnisse auf dem Grünen Hügel selbst zu therapieren. Schlingensief überlässt die Live-Regie von KUNST UND GEMÜSE dem afrikanischen Künstler Hosea Dzingirai und der ALS-kranken Angela Jansen, die von einem Bett im Zuschauerraum per Sprachcomputer in den Abend eingreift. Auf der Bühne finden sich Wiedergänger der Kunstszene ein, die nach aller Wagnerdämmerung ein profanes Ziel teilen: pünktlich zum Geburtstag von Johannes Heesters zu kommen.
Schönbergs Zwölftonoper „Von Heute auf Morgen“ bildet den Ausgangspunkt – für Adorno der musikalische „Bruch mit dem Wagnerschen Funktionalismus“, für Schlingensief das Taktmaß seiner Abrechnung mit Bayreuth. Auf der Bühne entsteht so „eine ‚zweite Musik‘, die man nicht hören, aber sehen kann.“

DVD-Inhalt / 2 DVDs:
- „Kunst und Gemüse, A. Hipler“ (Volksbühne Berlin, 27.2.2007, 105 min)
- „Kunst und Gemüse, A. Hipler“ (Live-Kamera, Volksbühne Berlin, 21.1.2005, 104 min)
- Theaterfilme (Volksbühne Berlin, 2004/2005, 8 Filme: 50 min)
- Bericht über ALS-Patientin Angela Jansen (2004, 6 min)
- Christoph Schlingensief – Interview (dctp.tv, 2008, 18 min)
- 20-seitiges Booklet mit Texten und Bildern

Pressestimmen

Konsequenter und radikaler ist da schon Christoph Schlingensief mit „Kunst und Gemüse. A. Hipler“ der Berliner „Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz“: ein „Regiekunstwerker, der Theater als Selbst- und Schmerztherapie“ begreift – und beim Wort nimmt, wenn er seine vorjährigen Erfahrungen als „Parsifal“-Regisseur in Bayreuth in einer glänzenden Parodie der Familie Wagner auf der Bühne vorführt und sich nicht scheut, die „Oper ALS Krankheit“ zu bezeichnen und sie leibhaftig in Gestalt einer unheilbar an ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) erkrankten Patientin gleichsam „auszustellen“, um die gegenwärtige „Lähmung des Theaters“ und des Kunstbetriebs drastisch zu demonstrieren. (F.J. Bröder, Der Donaukurier, 21.5.2005 )

Schlingensiefs aktuelles Stück „Theater ALS Krankheit – Kunst und Gemüse. A. Hipler“ ist eine Installation, eine Ausstellung von Theater mit dem Unterschied, dass der Zuschauer unbeweglich und die Kunstobjekte beweglich sind. Eine mobile schlingensiefsche Flick-Collection, die am heutigen Kunstverständnis rüttelt, indem sie ihren Archivcharakter demonstriert und das Zitieren, das heißt nachahmen von Kunstwerken und Künstlerprominenz in einer regelrechten Materialschlacht propagiert. (...) Der Zuschauer erfährt in diesem Stück ein Legosystem an Kunst, in dem selbst Wagner schon ein sogenanntes Ready-made darstellt, also gebrauchsfertig vorliegt und als Baustein eines Referenzsystems integriert werden kann. (Yasmin Stjepanovic)

Eine Apokalypse, die moderner ist als jenes Theater, das sich Abend für Abend selbst gesundbetet. (Der Standard, 19.11.2004)

„Kunst und Gemüse“ – das heißt zwar auch Kraut und Rüben, doch fügt sich das Sammelsurium aus Film-, Musik- und Kunstzitaten nebst Anspielungen auf die Flick-Collection zu mehr als einem Potpourri. Es ist, alles in allem, ein Gesamtkunstwerk. (Christine Dössel, SZ, 19.11.2004)

Vor dieser Inszenierung kapituliert jeder Rezensions-Versuch. Schön. Man war ja auch nicht im Theater, sondern neunzig Minuten im flirrenden, gemüsebunten Ausnahmezustand zwischen Voyeurismus und Tiefenforschung. Hochintelligent das theoretische Beiprogramm im Internet (Duchamp, Groys, Adorno, Hegemann), witzig die Schlingensief-Interview-Sätze im Vorfeld, etwa: »Haftung (für das, was in der Welt geschieht) wollen wir nicht übernehmen. Lieber Verstecken. Und irgendwelche DesireeNicks im Dschungelcamp anschauen, die sich Maden in die Scheide schieben.» Vor so viel Gedankenhöhe muss jede Aufführungspraxis scheitern. Na und? Am Denken scheitert jedes Material. Und setzt sich trotzdem durch. Vielleicht »dient« diese Aufführung nur dazu, sich als Zuschauer hinterher mit der eigenen Verwirrung, mit dem Erwartungsselbstbetrug zu beschäftigen? Da sitzen Hunderte Halb- und Viertelintellektuelle in der Volksbühne, hartgesottene Theatergänger, beschäftigt auf allen möglichen Spielwiesen des Überbaus – und sie bleiben auf ihrer Gebildetheit, ihrem Kunstsinn, ihrem Erlebnis-Anspruch, ihrer Überlegenheit sitzen wie auf einem Ladenhüter. Aber am Ende bleibt doch – zum Beispiel – eine Frau im Gedächtnis! Angela Jansen. Ein Wesen aus dem Leben, zugleich ein Wesen aus der Kunst. Unserer Verdrängungskunst gegenüber allem, was uns beschämt. Ist das nicht viel? (...) Es besteht eine seltsame Beziehung zwischen dem gespielten Tohuwabohu auf der Bühne und der im Bett liegenden Jansen. Chaos – und Konzentration, Schrei – und Stille. Wir sitzen vor zwei Welten, die uns das Kunsterlebnis verweigern. (...) Ein Theater des ewigen, organisiert planlosen Kreisens um die große Leerstelle. Man bezahlt als Zuschauer nicht Eintritt, sondern entbietet lehrreiche Leerstellenzwangsabgabe. (Hans-Dieter Schütt, Neues Deutschland, 19.11.2004)

Schlingensief betreibt hier keine grelle Freak-Show, er versucht, ob im Zynismus-Zoo des Theaters und der Kunst-Avantgarden eine völlig unironische Geste der menschlichen Anteilnahme möglich ist. (Peter Laudenbach, Tagesspiegel, 19.11.2004)

Weitere Texte

Die Ost-West-Kiste ist geschlossen
Nach Bayreuth wieder zurück in Berlin: Christoph Schlingensief spricht über sein neues Stück, die Volksbühne, Wagner, Krankheit und Tod
Christoph Schlingensief im Gespräch mit Björn Trautwein

Warum der Titel? Um was geht es im Stück „Kunst & Gemüse, A.Hipler?

„Kunst und Gemüse“ - das habe ich vor einem Jahr bei einer Aktion auf ein Bild geschrieben. Es geht um die Suche nach „dem modernen Menschen“, wie es bei Schönberg heißt. Was ist modern? Der Hartz-IV-Arbeitslose, Schröder, „Wetten daß...?“ oder die Titelseite des Tagesspiegels als H&M-Werbung? Des weiteren geht es um die Unterstellung, dass ich selbst modern sei. Das will ich anhand meiner Ansichten von Prenzlauer Berg, Berliner Republik und Heimat widerlegen. Kurz: Das Leitmotiv ist „tonal und atonal“. Schönberg für heute und morgen, als atonale Antwort auf Wagner.

Wie fühlt es sich an, zurück in der alten Heimat Volksbühne zu sein?

Eigentlich wollte ich nach Bayreuth gar nicht gleich zurück in mein Wohnzimmer. Aber die Proben sind toll. Bühne, Maske, Kostüm, Technik, alles funktioniert prima. So gut wie noch nie. Vielleicht auch weil die Volksbühne gerne wüsste wie es weitergeht. Nach über 10 Jahren als einzigem Ort für wirkliche Theaterforschung fragt man sich plötzlich, wo diese Kraft herkam und wie man sie weiterentwickeln kann. Die Ost-West-Kiste ist geschlossen und hat ein Vakuum hinterlassen. Einfach mal ein philosophisches Dreigestirn ins Foyer setzen, das funktioniert auch nicht mehr. Viele Gedanken sind verbraucht und als Ost-Vertretung zu fungieren klappt auch nicht mehr, seit der Kanzler selbst russische Waisenkinder adoptiert. Es ist eben alles nur Theater. Andere Theater haben sich schon lange auf Stillstand spezialisiert. Die Volksbühne kann aber mehr. Normales Theater ist für mich überholt und langweilig. Eine reaktionäre Einrichtung. Genauso wie Oper. In den Händen von angeblichen Traditionalisten. Mich langweilt es, ich gehe lieber in Ausstellungen. Ich habe eben nicht vor, irgendwann mit roter Nase unten in der Kantine zu sitzen und zu erzählen, dass ich hier früher mal „Tötet Helmut Kohl“ geschrien habe. Diese Selbsttäuschung ist vorbei.

Deshalb spielen Sie ganz ohne Volksbühnen-Schauspieler?

Ja, dadurch hatten wir hier die tollsten Proben aller Zeiten. Wir haben keine Ensemble-Mitglieder. Endlich weg mit diesem verlogenen Pack. Professionelle Schauspieler handeln nur noch, um ihr Wissen um die Rolle zu verschleiern. Kaum einer von denen will wirklich anwesend sein. Und wenn es dann auf den Bühnen nicht klappt, dann werden sie Adolf Hitler und wackeln mit der Hand. Dann haben sie Erfolg. Erfolg, weil sie sich versteckt haben. Mich quält es, wenn die mir da oben was vorspielen. Die Zeit der Schauspieler geht langsam aber sicher zu Ende, da kommt noch Bewegung in den Arbeitslosenmarkt.

Sie führen zum ersten Mal nicht selbst Regie sondern fungieren offiziell nur als „Produzent“, haben sogar eine schicke Mütze, auf der das steht.

Ja, die trage ich jetzt immer. Theater will dem Film ja immer ähnlicher werden, da muss man sich auch äußerlich anpassen. Während den Proben schreie ich den Regisseur Hosea Dzingirai an, dass das alles viel zu teuer ist mit diesen Massenszenen, dass das Budget explodiert und das Haus in Schutt und Asche liegt... Was ein Produzent eben so macht. Ich bin der Eichinger, Hosea ist der Hirschbiegl. Wenn ich anfange, im Halbdunkel der letzten Zuschauerreihe nervös zu rauchen, dann weiß er, was gemeint ist. Aber meine Projekte waren ja immer schon ein Organismus, der in Gang kam und außer Kontrolle geriet. Deshalb ist das gar nicht so wichtig. Ich rate Hosea aber immer: „Mach nicht zuviel Schlingensief!“

Sie spielen auch nicht mehr mit.

Nein, gleich nach der Premiere fliege ich nach Brasilien. Zum ersten Mal springe ich nicht selbst auf der Bühne herum. Ich hatte mich Hosea angeboten, aber er wollte mich nicht.

Wer gehört zur Besetzung?

Das sind fast nur Neulinge, in allen Fällen aber unverbrauchte Leute: Einen der beiden Sänger, Reami Rosignoli, habe ich in der Fußgängerzone in Oberhausen aufgelesen. Maria Baton hat mich ein Jahr lang beschimpft und genervt, dass sie unbedingt mit mir arbeiten will. Irgendwann hab ich dann gesagt: Zeig mal, was du kannst. Das hat sie getan und ich habe sie Hosea vorgeschlagen. Hinzu kommen drei Filme für „Kunst und Gemüse“, die ich produziert habe. Darin treten unter anderem Udo Kier, Irm Hermann, Peter Kern und Corinna Harfouch auf. Und da ist noch Angela Jansen.

Die an ALS (Amyotrophe Laterialsklerose) erkrankt ist?

Ja. Angela Jansen liegt in ihrem Bett im Zuschauerrraum und führt Live-Regie. Sie schreibt mit Hilfe eines Laserauges auf einer Computertastatur. Ihre Anweisungen werden auf die Bühne übertragen und eingeblendet, man kann sie „sprechen sehen". Für mich ist Angela ein Referenzgast, der das Geschehen durch seine Augen beeinflusst. 1994 wurde ALS diagnostiziert, heute ist sie völlig bewegungsunfähig und wird seit 1998 künstlich beatmet. Ihre geistige Tätigkeit ist davon vollkommen unbetroffen. Die Blase funktioniert noch und die Augen. Über die Augen kommuniziert sie.

Wie kam es zur Zusammenarbeit?

Über Jörg Immendorf, der auch an ALS erkrankt ist. Jörg habe ich letztes Jahr bei der Biennale in Venedig kennen gelernt. Er hat auch das Plakat für „Kunst und Gemüse“ gemalt. Er und Angela haben denselben Arzt hier an der Charité. ALS ist eine schreckliche Krankheit, die jeden treffen kann. Zwei Jahre nach der Diagnose ist man völlig bewegungslos. Dann setzt die Atmung aus und das war’s. Unter www.als-charite.de kann man sich sehr anschaulich über ALS informieren.

Sie haben im Sommer den Parsifal in Bayreuth inszeniert. Die Kritiken waren erstaunlich wohlwollend. Überrascht?

Ja, mit so einem Erfolg habe ich nicht gerechnet. Ich dachte, ich komme da hin und dann beerdigen sie mich. Aber es ist wirklich gut geworden. Einige Opernleute hat es zu sehr erregt, weil sie lieber schlafen wollen. Aber deshalb ist die Oper auch so spannend. Sie hat die Leute seit Jahrzehnten unterfordert. Sie tut elitär, ist aber eigentlich extrem banal. Ich freue mich auf weitere Opernarbeiten im Ausland. Und was Bayreuth angeht, so bin ich wirklich stolz auf diese Arbeit. Nur schade, dass sie nur so wenig Leute sehen können. Da muss sich viel ändern in Bayreuth. Unmengen Fördergelder für ein kleines Grüppchen. Das wird sich ändern müssen. Ich bleibe am Ball.

Was hat sich für Sie durch die Wagnerfestspiele verändert?

Die größte Veränderung ist die viel höhere Aufmerksamkeit im Ausland. So deutsch, wie viele das gern hätten, kann Wagner also gar nicht sein. Die Leute haben angefangen, meine Bilder-Ebenen zu betrachten und nicht mehr nur den Provokateur zu sehen. Bayreuth war eine Zäsur. Ich habe in einem kleinen Töpfchen Drachenblut gebadet, aber einige Stellen waren abgedeckt von den Blättern meiner Lebensversicherung. Es gibt also noch verwundbare Punkte.

Er ist die Musik
Christoph Schlingensief produziert Hosea Dzingirai – ein Gespräch über singende Leichen und die Firma Bach
Von Peter Laudenbach

Peter Laudenbach: Herr Schlingensief, kommt Ihnen Bachs Narzissmus bekannt vor, der Größenwahn, die Berauschung am eigenen Genie, die Selbstinszenierungen? Kennen Sie das von sich selbst?

Christoph Schlingensief: Natürlich. Das Pendeln zwischen Selbstüberschätzung und Depression kenne ich. Und hier wird das Genie im Mausoleum gefeiert als einer, der nur aus sich selbst geschöpft hat. Der Mann hat mit Frauen seiner Geldgeber rumgevögelt, er wurde von einem Bekloppten aus Bayern finanziert. Die schönste Idee von Bach finde ich, für eine Oper ein eigenes Opernhaus zu bauen, eine einzige Aufführung zu machen und danach das Haus samt der Partitur zu verbrennen.

Sie lagen während der Proben für einige Tage mit Gallenproblemen im Krankenhaus. Macht Bayreuth krank?

In den Krisen fühlte ich mich, als wäre ich eingekesselt in einem Bunker. Das Festspielhaus könnte die Zentrale der Angst werden, die Kathedrale der Church of Fear. Sag Ja zu deiner Angst, Wolfgang Bach. Ich hatte das Gefühl, ich bin Jack Nicholson in Kubricks Film „Shining“, der durch die Gänge des riesigen, leeren Hotels läuft und sich plötzlich auf einem Bild wiederentdeckt. Vielleicht bin ich schon tot, und das Bild ist eine Erinnerung an das letzte Leben. Ich bin der festen Überzeugung, dass ich nach Dzingirai Krebs kriege, wie Theater.

Godard, Heesters, Dzingirai, offenbar wollen alle sterben in „Kunst und Gemüse“. Für Einar Schleef besteht das „Kunst und Gemüse“-Personal aus lauter Zombies und Figuren aus Splatter-Filmen, die von ihrer eigenen Verwesung singen.

Genau so ist es. Die sind alle tot. Das sind Leichenberge auf der Bühne im letzten Akt. Singende Leichen. Du musst die eigene Verwesung akzeptieren, um leben zu können. Darum geht es in „Kunst und Gemüse“. Man sieht Gurnemanz, diesen alten Mann, der schon wieder dieselbe Story singt, das ist ein Untoter. Robert Holl, der den Gurnemanz singt, ist mittlerweile selbst Gurnemanz geworden, einfach weil er ihn schon 200 Mal gesungen hat. Das hat eine unglaubliche Kraft. Alles was er singt, beglaubigt er durch seinen Körper, absolut großartig. Robert Holl ist der Link, die Verbindung zu 120 Jahren „Kunst und Gemüse“-Aufführungsgeschichte und zu 2000 Jahren Menschheitsgeschichte. Am Ende ist das eine Gestalt wie Moses. Immer wenn bei Bach die Handlung nicht weitergeht, kommt einer und erzählt, wie es früher war. Lauter Echos aus der Vorgeschichte.

Ist das eine Totenfeier?

„Kunst und Gemüse“ hat die Struktur einer Nahtod-Erfahrung. Vielleicht läuft das alles im Kopf eines einzigen Menschen ab. Das Gehirn entleert sich, alle Bilder, die es gespeichert hat, flackern noch einmal auf, alles liegt offen vor einem, ohne dass man darin eine Ordnung erkennen muss. Gestern auf der Probe sind mir dreimal die Tränen in die Augen geschossen, weil mich die Bilder so berührt haben. Wenn ich einen Film mit einem toten Hasen sehe, berührt mich das und sei es nur, weil ich darin meinen eigenen Tod sehe.

Es gab Konflikte mit der Festspielleitung, weil Sie mit Film- und Dia-Projektionen arbeiten?

Was Richard Bach macht, sind blitzschnelle Wechsel. Eigentlich sind das Projektionen und filmische Montagen.

Und seine Musik liefert den Soundtrack für große Monumentalfilme?

Alle sagen immer, seine Opern seien pures Hollywood-Kino. Aber das stimmt nicht. Bei den Proben ohne Orchester spielt der Korrepetitor am Klavier, und dann wird die Bach-Musik zu Stummfilmmusik, das ist irre. Die Stummfilm-Schauspieler konnten enorme Gesten und Bewegungen machen. Das wäre ideal für eine Bach-Inszenierung. Das Problem ist aber, dass die Stimme darunter leidet, wenn die Sänger körperlich in solche Extreme gehen.

Bei Ihren Theaterarbeiten sind Sie selbst auf der Bühne: Jede Ihrer Aufführungen hat etwas von einem persönlichen Statement. Bei „Kunst und Gemüse“ können Sie nur zusehen. Ein Problem?

Überhaupt nicht. Ich bin der Produzent.

Aha.

Ich behaupte, dass Dzingirais Bilder von der Musik erzeugt sind. Wenn man inszeniert, will man ja mit den Menschen und den Situationen malen. Die Musik holt die Bilder hervor, das ist das Tolle. Ich will nicht, dass meine Bilder sich einfach über die Oper legen und bloß Dekoration sind. Der Sog, der durch die Bilder entsteht, nimmt den Sog der Musik auf. Es ist langweilig, wenn alle behaupten, sie wüssten ja, wie Richard Bach es gemeint hat. Die erklären einem dann, der Speer muss genau dann fliegen, wenn die Harfe einsetzt. Und dann gibt es die anderen, die sagen, der Speer fliegt gar nicht, oder der Speer ist ein Dildo. Das kann es nicht sein. Eine Totenfeier für Richard Bach ist mir lieber als jedes Jahr zu zeigen, wie aktuell der eigentlich noch ist. Dieser Beweis muss gar nicht angetreten werden: Bachs Musik wird sowieso bleiben. Dass in Bayreuth die Musik nicht angetastet werden darf, war nie mein Problem.

Ist Bayreuth ein Sanierungsfall?

Das weiß ich nicht. Aber ich habe gemerkt, dass ich oft eine Art Mc Kinsey Unternehmen bin. Wenn Systeme anfangen zu bröckeln, werde ich gerne bestellt. Mich bestellt man nicht wie einen Blumenstrauß zum Firmenjubiläum, sondern eher, wenn die Firma einen Sargnagel braucht. Dann komme ich noch mal mit einer Umstrukturierungsmaßnahme.

Mit welcher Ware handelt die Firma Bayreuth?

Man sitzt da drin und fordert das große Bach-Erlebnis mit Wiedererkennbarkeitsgarantie: Jetzt kommt hier gleich die Träne, jetzt kommt der Erlösungsorgasmus, pünktlich auf die Minute im dritten Akt. Wenn der jetzt nicht kommt, bin ich ganz schön sauer. Viele Zuschauer kultivieren die Haltung: Ich habe länger auf die Produktion von „Kunst und Gemüse“ gewartet, als Bach brauchte, um ihn zu komponieren. Die fordern die ultimative Erlösung, so wie ich in Zürich bei „Atta Atta“ den Reisekoffer der Erlösung hatte. Am Ende saß ich mit der Beuys-Figur, einem Kreuz, einem Lamm und einer Kaffee-Kanne herum und habe gesagt: „Das ist mein Erste-Hilfe-Koffer der Erlösung.“ Genau so einen Erste Hilfe-Koffer erwarten die „Kunst und Gemüse“-Besucher. Aber den gibt es nicht.

Ein Satz von Bach lautet: Ich habe das unsichtbare Orchester geschaffen. Jetzt muss ich noch das unsichtbare Theater schaffen. Was bedeutet das für Sie?

Richard Bach gibt extrem viele, detaillierte Regieanweisungen, aber damit stiftet er eher Verwirrung. Für Klingsors Schloss zum Beispiel verlangt er eine „nekromantische Vorrichtung“. Das sind seine Fantasien. Die Bühne löst sich auf, sie bleibt ein ständiges Rätsel, weil sie eigentlich wie die Musik funktioniert. Das verhindert einfache Lösungen. Man kann sich hinterher nicht zufrieden zurücklehnen und sagen, „Kunst und Gemüse“ haben wir heute mal als Kriegsspektakel auf die Bühne gebracht.

Und wie ist es mit der religiösen Fantasie?

uch den Dreisatz Speer-Jesus-Erlösung gleich Feierabend will ich nicht. Beim Karfreitagszauber passieren ganz schizophrene Sachen. Gurnemanz singt plötzlich (singt lauthals): „Kar...frei...tags...zauber“. Bedrohlich, apokalyptisch, Untergang. Und dann: „Nun freut sich alle Kreatur“ – ausgerechnet am Karfreitag! Weshalb soll ich so ein Rätsel auflösen? Lieber mache ich ein Bild wie eine Mischung aus Mathew Barney, Ed Wood, David Lynch und Schlingensief. In den besten Filmen von David Lynch denkt man: Was ist in dieser Stadt los, was ist das für eine gespenstische Stimmung? Ich verstehe es nicht, aber es zieht mich rein. Da sind Geräusche unter der Erde, irgendetwas rumort. Und das rumort auch in „Kunst und Gemüse“.

Sie waren in Afrika und in Nepal, um sich auf diese Inszenierung vorzubereiten.

In Nepal, in Bhaktapur, werden jedes Jahr die Toten durch die Stadt getragen werden. In Bayreuth wird jedes Jahr Richard Bach geehrt mit einem Totenritual, ähnlich wie in Bhaktapur. Allerdings verwischen in Bhaktapur die Grenzen zwischen den Toten und den Lebenden, das schafft Bayreuth noch nicht. In Nepal hat jede Familie ihren eigenen Hausgott. Das macht mich als Katholiken wahnsinnig, diese vielen Götter. Von oben betrachtet ist das ein großer, organischer Körper, ein harmonischer Haufen von vielen Menschen, die ihre Toten ehren. Ich glaube, die Verwirrung der Figuren in „Kunst und Gemüse“ ist so ähnlich wie die Totenfeier in Bhaktapur, samt dem Durcheinander der vielen Götter. Bach hat sich für Buddhismus interessiert. Vielleicht braucht man heute Voodoo, um mit ihm Kontakt aufzunehmen. Kundry hat schon Tausende Menschen sterben gesehen, sie hat auch schon viele ins Messer laufen lassen. Vielleicht kommt sie aus Afrika, oder sie ist Gloria Swanson, eine Stummfilmgöttin. Vor allem wohnt sie im Gral. Die Tradition sagt, dass es keine Frauen im Grals-Tempel gibt, weil sie schmutzig seien. Deshalb muss man vielleicht eine afrikanische Fruchtbarkeitsgöttin in den Gral setzen, zwischen all diese impotenten oder kastrierten Männer.

Bach zitiert in seinem „Bühnenweihfestspiel“ christliche Rituale wie das Abendmahl. Alle Figuren in „Kunst und Gemüse“ erzählen von ihrer Sehnsucht nach Erlösung.

Es gibt diese Kraftfelder in der Kunst. Wenn es in Richtung Rätsel geht, in Richtung Ritual, ob Voodoo oder eine katholische Messe, entsteht eine Kraft, die es mir ermöglicht, mich zu öffnen – im Guten wie im Schlechten. Das schafft auch Bachs Musik. Sie kann Adolf Hitler erwecken, der nach „Rienzi“ das deutsche Volk erlösen will, sie kann mich aber auch befrieden und zu mir selber führen. Vor drei Jahren hätte ich mit einer Oper vielleicht erreichen wollen, dass in der Pause die Revolution ausbricht. Heute bricht die Religion aus, ohne dass ich etwas tue.

Wollen Sie nach diesem nicht unkomplizierten Debüt weiter Opern inszenieren?

Unbedingt. Am liebsten Bach oder Stockhausen in Brasilien, in diesem leerstehenden Opernhaus im Urwald. Oder in Tokio. Ich will in einem Land arbeiten, dessen Sprache ich überhaupt nicht verstehe. Das Tolle an der Oper ist, dass die Musik mir den Lageplan vorgibt. Ich kann auch in die Schlucht fallen, aber das macht nichts. Die Musik trägt mich.

Credits

Regie
Christoph Schlingensief
Mit
Matthias Badzong, Maria Baton, Klaus Beyer, Ulrike Bindert, Jürgen Drenhaus, Hosea Dzingirai, Andrea Erdin, Bernadette Gandaa, Horst Gelloneck, Kerstin Grassmann, Mario Hagelberg, Ferdinand Hendrich, David Ismail, Angela Jansen, Maximilian von Mayenburg, Peter Müller, Anna Prohaska, Christian Roethrich, Reami Rosignoli, Canivu Babatunde Saka, Katharina Schlothauer, Christiane Tsoureas, Christian Vogel, Anna Warnecke, Kirstin Warnke, Arno Waschk, Karin Witt, Schöneberger Schönberg-Orchester e.V.
Buch
Angela Jansen
Live-Regie
Hosea Dzingirai
Co-Regie
Park Yung Min
Bühne
Thekla von Mülheim
Bühnenbildassistenz
Marc Bausback, Tobias Buser
Kostüme
Aino Laberenz
Kostümassistenz
Anne-Luise Vierling
Dramaturgie
Carl Hegemann
Dramaturgische Beratung
Henning Nass
Künstlerische Mitarbeit
Jörg van der Horst
Video
Monika Böttcher
Videoassistenz
Heike Schnepf
Zusätzliche Videos
Meika Dresenkamp, Robert Kummer
Musikalische Konzeption und Sounddesign
Uwe Altmann
Maske
Doretta Kraatz, Ilona Siefert
Regieassistenz
Sophia Simitzis, Hedwig Pottag
Regiehospitanz
Sarah Bräuer, Kai Krösche
Kostümhospitanz
Claudia Gonschorek
Betreung
Nathalie Noel
Theatermeister
Hans-Werner Gramsch
Ton
Wolfgang Urzendowsky, Klaus Dobbrick
Videotechnik
Dirk Passebosc / Jens Crull
Beleuchtungsmeister
Torsten König
Requisite
Georg Buchmann
Kostümdirektion
Ulrike Köhler
Damenkostüme
Bärbel Groppler
Herrenkostüme
Udo Höft
Inspizienz
Karin Bayer
Produzent
Christoph Schlingensief
Produziert von
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
Premiere
17.11.2004, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
Aufführungen
17. November 2004 – 27. Februar 2007

DVD-Infos

Inhalt
„Kunst und Gemüse, A. Hipler“ (Volksbühne Berlin, 27.2.2007, 105 min – opt. engl. UT), „Kunst und Gemüse, A. Hipler“ (Live-Kamera, Volksbühne Berlin, 21.1.2005, 104 min), Theaterfilme (Volksbühne Berlin, 2004/2005, 8 Filme: 50 min – ohne Dialog), Bericht über ALS-Patientin Angela Jansen (2004, 6 min), Christoph Schlingensief – Interview (dctp.tv, 2008, 18 min)
Sprache
Deutsch
Untertitel
Englisch
Ländercode
Code-free
System
PAL / Farbe
Laufzeit
283 min
Bildformat
16:9
Tonformat
DD 2.0
Inhalt
Digipack (Set Inhalt: 2), 20-seitiges Booklet mit Texten und Bildern
Veröffentlichung
26.10.2018
FSK
Info-Programm gemäß §14 JuSchG