Back to top

Stadt als Beute

D 2005, 93 min

Drei Geschichten zwischen Bühne und Leben aufregendes junges deutsches Kino und ein echter Berlin-Film!

Synopsis

Zwei Wochen vor der Premiere läuft nichts mehr, Regisseur René Pollesch und sein Ensemble stecken in einer tiefen Krise. Der unerfahrene Marlon versteht nicht, was dieser Pollesch von ihm will. Lizzy versucht, ihre Grenzen auszutesten: Sie will endlich mal nackt auf der Bühne stehen und hört nicht auf zu nerven. OhBoy, eigentlich kein richtiger Schauspieler, erscheint erst gar nicht zu den Proben. Weitergeprobt wird trotzdem, bis die Fetzen fliegen.

Mit subtilem Humor und schrägem Realismus erzählt der Film in drei Episoden vom Leben und Überleben in der Metropole, von Einsamkeit und Freundschaft, Erfolg und Anerkennung. Die Proben zu René Polleschs Inszenierung von STADT ALS BEUTE, jener furiosen Sammlung wahnwitziger Texte und Ausbrüchen voller Verzweiflung, bilden den gemeinsamen Ausgangspunkt der drei Episoden.

Aktuell

Wir trauern um René Pollesch, der diesen Film vor 20 Jahren ermöglicht hat. "Es wird langsam voll da oben" hat Christoph Schlingensief zum Tod von Werner Schroeter beklagt, jetzt wird es langsam leer hier unten. Danke René, wir werden dich sehr vermissen.

Streaming-Info

Der Film ist über unseren Vimeo-Kanal zum Leihen oder Kaufen erhältlich. Weitere Anbieter siehe „Film kaufen“.Sprache: Deutsch, Untertitel: Englisch

Pressestimmen

Stadt als Beute ist ein faszinierender, höchst anregender Low-Low-Budget-Film, der souverän mit seinen (monetär begrenzten) Mitteln und Möglichkeiten operiert und dabei wie aus einem Guss wirkt - trotz dreier unterschiedlicher Regisseurinnen, die einen sehr kreativen Weg gefunden haben, ihre Kräfte zu bündeln und auf diversen Ebenen spielerisch zu verknüpfen, flott und erstaunlich leicht. Dabei wäre der Film durchaus auch politisch zu deuten, wobei er kein agitierendes Thesenpapier ist, sondern eine höchst rhythmische, subtile und sogar humorvolle Städtetour, die zwischen dem Konkreten und Greifbaren hindurchhorcht, um Stimmungen und Befindlichkeiten einzufangen. (Horst Peter Koll, Film-Dienst, 13/2005)

Schrill, leidenschaftlich, wunderbar. (Tagesspiegel)

‚Stadt als Beute’ überschreitet ständig die Grenzen zwischen Realität und Spiel und ist so vielschichtig wie seine drei Regisseurinnen und ihre grandiosen Darsteller. Das ist ‚Trainspotting’ für Theaterjunkies: anstrengend, erhellend, prätentiös, abgehoben, experimentell, jung. Wie Autor Pollesch im Film sagt: ‚Es geht nicht darum, hier alles zu verstehen.’ (Volker Bleeck, TV-Spielfilm)

 

Irene von Alberti, Miriam Dehne und Estther Gronenborn griffen sich ‚Stadt als Beute‘ und zerren das Material auf die Straßen Berlins. Auf drei Akteure gesplittet, beleuchtet jede Regisseurin einen Aspekt von Polleschs Entfremdungsthesen (...). Das Resultat ist großartig, eine spannende, vielschichtige Reflexion über Individualität im künstlerischen Reproduktions- und Verwertungskontext. (Cristina Moles Kaupp, tip Berlin)

Preise und Festivals

- Berlinale Forum 2005- Preis der C.I.C.A.E. (Internationaler Verband der Filmkunsttheater) - Lobende Erwähnung / Berlinale Forum 2005

Weitere Texte

STATD ALS BEUTE Produktionsgeschichte
Aus dem Booklet zur DVD des Films

Im Sommer 2003 sieht Irene von Alberti die furiosen Inszenierungen von René Pollesch am Prater der Volksbühne. Sie lässt sich zu der Idee inspirieren, die Theaterproben zu „Stadt als Beute“ in den Mittelpunkt eines Films zu stellen. Das begeistert auch die beiden befreundeten Kolleginnen Miriam Dehne und Esther Gronenborn.

Im Februar 2004 reichen die drei ihre Drehbücher beim ZDF ein. Die Redakteurin Claudia Tronnier (Das kleine Fernsehspiel) mag das Projekt, und im Juli passiert es erfolgreich die Redaktionssitzung. Schon wenige Wochen später ist Drehstart, denn eine Grundidee von „Stadt als Beute“ ist die schnelle Umsetzung. Das Buch soll nicht, wie so oft, erst auf den Schreibtischen reifen.

Mit der Episode MARLON wird gestartet. Das Team um Irene von Alberti filmt zunächst in einer Wohnung in der Kastanienallee im Prenzlauer Berg. Dreh- und Angelpunkt der Dreharbeiten aber ist der Prater, wo am 11. Drehtag der erste Regiewechsel stattfindet. Die Episode LIZZY von Regisseurin Miriam Dehne spielt unter anderem in einer Tabledancebar: dem Rush Hour, einem Striplokal in Tempelhof. Parallel dazu beginnt Esther Gronenborn am 13. Drehtag mit der Episode OHBOY auf der Potsdamer Straße.

Über die Filmförderungen in Berlin-Brandenburg und Baden-Württemberg wird erst im Oktober positiv entschieden – da ist der Film schon beinahe abgedreht. Das Gesamtbudget von 200.000 Euro ist trotzdem recht knapp.

Schon während der Dreharbeiten bekundet Alfred Holighaus von der Berlinale sein Interesse, das motiviert! Der fertige Film begeistert auch Forums-Chef Christoph Terhechte, und „Stadt als Beute“ feiert am 15. Februar 2005 seine Premiere auf der Berlinale. Volle Säle und die gute Resonanz des Publikums machen den Verleih Neue Visionen auf den Film aufmerksam: Sie nehmen ihn in ihr Programm auf, und am 23. Juni startet „Stadt als Beute“ bundesweit in den Kinos.
(Filmgalerie 451)


Die Regisseurinnen über STADT ALS BEUTE

Irene von Alberti über MARLON

Was hat Standortpolitik mit mir zu tun? An wen verkaufe ich mich da Stück für Stück? Welchem Unternehmen wurde ich einverleibt, das jetzt seine Wurzeln gekappt hat und nun elektronisch um die Welt rast? Extrem beunruhigende Fragen, die ich zum ersten Mal ausgerechnet im Theater gestellt fand, während da draußen in der Stadt kaum ein Mensch mehr so leben oder arbeiten kann, wie er es mal geplant hatte, wo sich jeder ständig nur orientieren muss. In der kleinen heimlichen Wohnbühne des Praters erlebte ich furiose Darbietungen von René Polnischs Stücken. Ausbrüche voller Verzweiflung, wahnwitzige Texte. Wie schafft ein Schauspieler so einen Text, wie probt man so ein Stück? Sind diese Texte überhaupt alltagstauglich? Funktionieren die Worte noch, wenn man sie mit nach Hause nimmt? Und: Funktionieren sie auch in einem Film?
So entstand die Idee zu diesem Projekt. Um verschiedene Standpunkte und Sichtweisen auf die nach allen Seiten offenen Texte zu bekommen, fragte ich meine Kolleginnen, Esther Gronenborn und Miriam Dehne, ob sie Lust hätten, bei diesem Film mitzumachen. Als Konzept und Rahmen für den Film diente uns das verbindende Element aus fiktiven Theaterproben. René Pollesch in der Rolle des Regisseurs probt mit verschiedenen Schauspielern. Die wiederum bekommen in jeder Episode ihre eigene Geschichte. Die Schauspieler nehmen Begriffe aus dem Text in ihr Leben und erfahren sie dort am eigenen Körper, einfach und nachvollziehbar. Die Hauptfigur meiner Episode, Marlon, ist neu in diesem Theater und neu in der Stadt. Da die Menschen, denen er in der Stadt begegnet, offenbar nach ganz anderen Regeln spielen als denen, die er kennt, scheint er sich immer weiter von seiner Aufgabe zu entfernen, um am Ende völlig desillusioniert doch noch den Bezug zu seinem eigenen Handeln zu finden.

Miriam Dehne über LIZZY

Zwischen Sehnsucht und Glamour, Rausch und der gleichzeitigen Suche nach Geborgenheit und Liebe geht es mir in LIZZY um die Darstellung eines „Disneyland after dark“, einer Welt in der man sich zuviel aussuchen darf und doch nichts wirklich behalten kann. Besonders gereizt hat mich bei dem Theaterstück „Stadt als Beute“ von René Pollesch die Deutlichkeit, mit welcher der Text „Sexappeal als Waffe“  und „Die Käuflichkeit des Körpers“ thematisiert. Der Ort ist die Stadt. Berlin bietet in seiner Zerrissenheit keinen Schutz, keine Behaglichkeit, wo kann man bleiben? Im Prenzlauer Berg, einem Stadtteil ohne alte Menschen, ist das Theater, im menschenleeren Industriegebiet von Tempelhof plötzlich ein Tabledance-Club, am Checkpoint Charlie eine Boutique, in der niemand etwas kauft. Zwischen diesen Orten läuft Lizzy im gestohlenen Glamour-Mantel umher wie eine Mitspielerin bei Monopoly, kurz vor dem Verlieren und auf der Suche nach ihrer persönlichen Schlossallee.  

Esther Gronenborn über OHBOY

Die brüchige, wilde Potsdamer Straße ist der Spielort meiner Episode Ohboy. Einst Ausgehmeile und Hausbesetzerparadies, dient sie heute höchstens noch als Durchgangsstraße. Zwischen dem Selbstmörderhaus an der Pallastraße über einem Dschungel an Billigparadiesen und Babystrichmeilen mündet sie mit ihrem einstigen schillernden Glamour nun in der glänzenden, aber sterilen Oberfläche des Potsdamer Platzes und seines schicken Sony-Centers. Auf diesen wenigen Kilometern findet sich also alles, was eine Stadt zu einer Stadt macht: ein explosives Gemisch an Menschen und eine molochartige Hintergrundkulisse von Stadtarchitektur. Wie René Pollesch sagt: „Das soziale Gefüge, das die Stadt eigentlich bedeutet kann, ist längst uminterpretiert. Die Stadt ist nicht mehr für die Bewohner da, sondern nur noch ein Ort, an dem Überlebenskampf stattfindet. Die Fläche und ihre Gebäude dienen nicht mehr dazu, dass Menschen sich dort aufhalten, sondern sind höchstens Objekte von Spekulationen oder glänzenden Fassaden, um Investoren anzulocken. Sie haben nichts mehr mit den Bewohnern der Stadt zu tun.“ Die Hauptfigur meines Films ist der Lebenskünstler und Schauspiellaie Ohnboy. War er wirklich mal Stricher, wie seine Schauspielkollegen annehmen? Keiner weiß es so genau. Für den Regisseur des Theaterstücks, dargestellt von René Pollesch, verkörpert er genau das, was er mit dem Text ausdrücken will: „Ohboy ist Beute.“ Deswegen hat er ihn besetzt. Das Problem aber ist: Ohboy kommt gar nicht zu den Proben. Er verweigert sich. Statt sich in den dunklen Proberaum zu setzen, läuft er lieber die Potsdamer Straße entlang und versucht, sich den komplizierten Text vor Ort zu erarbeiten. Was die anderen als Provokation auffassen, ist in Wirklichkeit Ohboys Kapitulation vor seiner neuen Aufgabe als Schauspieler. Für die anderen ist seine Verweigerung Ausdruck mangelnder Professionalität, für ihn ist es nackte Angst. „Es geht um Strategien, sich hier durchzuschlagen“, sagt René Pollesch an einer Stelle meines Films – und dies genau habe ich versucht, auf der Potsdamer Straße dazustellen: All die Menschen, denen Ohboy auf seiner langen Wanderung begegnet, bebildern den Zustand der Stadt. Das soziale Gefüge ist längst aufgelöst. Hier kämpft jeder gegen jeden und am meisten gegen sich selbst.


Gespräch zwischen René Pollesch und den Filmregisseurinnen


Wie fandest du die Idee, dass wir deinen Text „Stadt als Beute“ als Grundlage für unseren Film nehmen?
POLLESCH: Das fand ich spannend. Normalerweise bin ich damit konfrontiert, dass jemand ein Stück als Vorlage für einen Film nehmen will, es verfilmen will. Bei euch ist das anders. Ihr nehmt es als Ausgangspunkt für einen Film, der noch mal was anderes erzählt. Ihr nehmt die Thematik, die im Stück behandelt wird, als eine alltägliche, die in dem Leben der drei Schauspieler vorkommt. Die Thematik aus dem Stück kommt in einer Form von Realismus im Film noch mal anders vor. Der Film fragt, ob so ein Stück überhaupt alltagstauglich ist. Ob man aus diesem Stück gehen und es auf sein Leben anwenden kann. Das war auch immer Thema in den Proben. Die Schauspieler sagten, sie gehen mit den Sätzen aus den Proben raus und sagen die noch öfter. Sie sind froh über die Sätze, weil sie einen Zustand benennen, den sie bis dahin noch nicht benennen konnten. Und darüber hinaus finde ich spannend an eurem Film: Ich hatte gerade selber in meinem Film gespielt. Das hat total viel Spaß gemacht, deshalb fand ich auch gut, bei euch mitzuspielen.

Hast du einen Wunsch, wie du in unserem Film dargestellt werden möchtest?
POLLESCH: Ich war gerade auf dem Weg ins Seminar, da rief mich Sophie Rois an und fragte, wo ich sei. Sie sagte dann: „Du bist in allen Universitäten der Welt, UM DIE FROHE BOTSCHAFT ZU VERKÜNDEN“. Da ist was dran. Ich habe schon das Bedürfnis, über unsere Arbeit zu reden. Wenn ihr jetzt einen stinknormalen Regisseur braucht, kann man auch darüber reden. Das mache ich. Aber es wäre Verstellung bei mir. Euch interessiert ja auch, wie diese Texte zustande kommen.

Ja, das wollen wir auch zeigen. Und dass die Schauspieler etwas von sich in den Text einbringen.
POLLESCH: Ein Projekt, das uns immer vorschwebt, wäre ein Stück, bei dem die Schauspieler die Autonomie kriegen, den Text selber zu schreiben. Das ist aber schwer einzulösen. Sie sind nicht trainiert zu schreiben und mein Körper ist nicht trainiert, mich in so einen Text zu involvieren. Deshalb ist die Aufgabenteilung ganz gut. Bei den Proben reden wir über die eigenen Bezüge, jeder erzählt Geschichten. Ich schreibe dann immer noch anderthalb Wochen weiter. Wenn ich einen Bezug zu dem Abend sehe, kann ich das schnell einbauen. Also schreibe ich und die Schauspieler sind froh über die Arbeitserleichterung. Trotzdem begreifen sie ihn dann auch als ihren eigenen Text.
Bei „Sex“ zum Beispiel reden drei Frauen. Und ich als nicht heterosexueller Mann höre zu und versuche, im Text vorkommen zu lassen, was sie erzählen. Es bestärkt die Schauspieler – und daran glaube ich eben auch, dass nur der eigene Bezug zu dem Text und den Text wirklich zu wollen den Abend gut machen. Die Schauspieler sollten bei mir nie einen Text sprechen, den sie nicht wollen oder der nur als Überleitung dient. Ich will den Satz nur hören, wenn es ihr Ernst ist. Dann merke ich – hat es etwas mit ihnen zu tun, hat es die Kraft, hat es die Energie?

Bei „Stadt als Beute“ sind die Clips ja ganz getrennt vom Text? Wie erfindet ihr diese Clips?
POLLESCH: Die schütteln wir aus dem Ärmel. Die ursprüngliche Erfindung der Clips kommt von der Idee, nach einem längeren, anstrengenden Text einfach mal eine Pause zu haben. Die Schauspieler können sich wieder aufladen. Die Musik hält die Spannung weiter, damit es nicht in so eine Generalpause absackt. Sie nehmen dann die Energie aus so einem Clip, um wieder reinzuspringen in den Text. Wichtig ist aber, dass es kein Bildertheater ist. Es soll nicht illustriert werden, was vorher war oder was kommen wird. Es hat keine Bedeutung für die Lesart.

In unserem Film ist das wirkliche Leben der Schauspieler so etwas wie die Clips.
POLLESCH: Ja, genau. Ich komme auch aus dem wirklichen Leben in meine Texte rein. Das ist ganz wesentlich für mich, dass ich über mein eigenes Leben schreibe, über Dinge, die da stattfinden, dass ich die bearbeiten kann. In der Hoffnung, dass es eine Reflexion ist, die auch die Schauspieler betrifft, die daran beteiligt sind. Es muss alles mit Leben zu haben. Ich komme nicht aus dem „Stadt als Beute“- Buch und schreibe dann meinen „Stadt als Beute“-Text, sondern das Buch sagt mir was. Das ist bedeutend. Es hat immer mit ganz persönlichen und alltäglichen Dingen zu tun. Es ist nicht der Wunsch da, jetzt einen heiligen Text zu schreiben, sondern das ist viel kommunikativer gemeint. Man soll den Text nicht nur konsumieren, denn es bleibt immer etwas übrig von dem Wissenwollen, von dem Aufgeschmissensein. Das kommt in dem Text als Kraft vor.
(Das Gespräch fand kurz vor den Dreharbeiten statt.) 


Stadt als Beute
Vollständige Kritik von Horst Peter Koll (Film-Dienst, 13/2005)

Dies ist keine Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks des umstrittenen, gleichwohl hoch prämierten Autors und Regisseurs Rene Pollesch – was wohl auch kaum möglich wäre, funktioniert die geballte Sammlung von furiosen Sentenzen, die im September 2001 erstmals in der Prater Wohnbühne der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz aufgeführt wurde, doch primär als „Rezitationsgewitter“ ohne sonderliche narrative Erdung, wie sie das Kino (meistens) braucht. Dass es Pollesch mit „Stadt als Beute“ fertig brachte, die Komplexe „postfordistische Subjektivität und Arbeitsverhältnisse“ sowie „die Umstrukturierung der Städte durch Privatisierung und Ausgrenzung“ unter Verwendung Foucaultscher Begriffe vom soziologischen Schreibtisch aus auf die dramatische Bühne zu bringen, wie es in einer Rezension so schön plastisch formuliert wurde, könnte von einer konkreten filmischen Adaption zusätzlich abschrecken. lrene von Alberti bringt jedoch ihr Interesse an Pollesch und seiner Auseinandersetzung mit der modernen Lebens- und Arbeitswelt nachvollziehbar und sehr anregend auf den Punkt: Die Sätze sind für sie keine Dialoge, sondern Diskurse, bei denen alles gleichzeitig stattfindet und damit quasi alles möglich, denkbar und assoziierbar wird – eine höchst schöpferische intellektuelle Spielwiese also, auf der man grast und pflückt, um eigene Schwingungen und Gedanken auszuloten und sie auch filmisch zu erschließen. Urbane und menschliche Standortbestimmungen bedingen einander dabei; genauso, wie die kalte Technologie der Großstadt die Einsamkeit und Verzweiflung der Menschen befördert, hält der Mensch seinerseits dagegen, verweigert sich intuitiv der Fremdbestimmung auf vielerlei Art und Weise, will nicht Beute der Stadt sein, sondern sie sich nutzbar machen, sich ihrer bedienen, sie „erbeuten“.
Es ist eine bezwingende Idee, sich Polleschs theoretischem Konzept durch kleine filmische Geschichten quasi von außen zu nähern, um es „sinnlich“ erfahrbar zu machen: Drei junge Menschen stehen im Zentrum einer Bühnenprobe unter der Regie von Pollesch, stehen mal ratlos, mal amüsiert, dann aggressiv und unwirsch dem Text (und den Mitspielern) gegenüber, bemühen sich um Deutung, Intonation und Interpretation und werden dabei, mehr oder weniger hilfreich, vom Regisseur „gecoacht“ . Der ist manchmal weniger Impresario als eher ein verkappter Therapeut der nicht nur Fordert sich in die Texte einzudenken und einzufühlen, sondern beharrlich erläutert, warum es gerade die ausgewählten jungen Schauspieler sind, die sein „Material“ durchformen: Sie leben in der Großstadt, sind Teil davon, Suchende und Ratlose, Neugierige und Verunsicherte, Lebens(un)tüchtige, (Über-) Lebenskünstler, auch Selbst- Darsteller.
Nicht minder faszinierend ist, dass sich den drei zentralen Figuren drei unterschiedliche Regisseurinnen angenommen haben, um sie aus der Probensituation hinaus „ins Leben“ zu begleiten. Dabei passiert etwas sehr Spannendes: Polleschs abstrakte Textphrasen schwingen nach und halten der Alltagsprüfung stand. Assoziationen vernetzen sich, ähnlich wie sich gelegentlich die Wege der drei kreuzen, sich verwandte Situationen ergeben und zum vitalen, authentischen Diskurs über Stadt und Beruf, Einsamkeit und Freundschaft, Sehnsucht und Leidenschaft, Angst und Isolation verflechten.
Da ist zunächst Marlon. Er ist neu in der Stadt, unsicher und linkisch. Polleschs Text macht ihn ratlos und aggressiv. Er schleppt ihn wie einen Ballast mit in seinen Alltag: in seine provisorische Unterkunft in einer Wohngemeinschaft, wo er die Verantwortung aufgezwungen bekommt, auf ein einsames Kind aufzupassen, und einem Rivalen um die Theaterrolle begegnet. Marlon gerät auf eine nächtliche Odyssee und bekommt wortwörtlich eins auf die Nase, bevor er wieder zur Probe erscheint – blutend, verletzt, womöglich um einige vage Erfahrungen „reicher“. Lizzy ist weit selbstbewusster und „stadttauglicher“. Für eine Filmpremiere, die sich an die Probe anschließt, stiehlt sie einen Designer-Mantel und landet in einer Nachtbar, die lediglich von einer naiven Blondine an der Tanzstange sowie dem jungen Geschäftsführer besetzt ist. Die wenigen räumlichen wie thematischen Vorgaben werden zum mitreißenden Parforce-Ritt für eine faszinierende Inga Busch, die sich in der seltsam tranceartigen Episode, aber auch den kurzen Probeszenen mit Pollesch regelrecht „auslebt“, lacht und schreit, gurrt und tanzt – erotisch und zugleich souverän verfremdend. Gleichwohl gibt „ihre“ Lizzy sich nicht preis, schlüpft am Ende in eine andere Identität, die sie dem Geschäftsführer „gestohlen“ hat, der sie womöglich seinerseits erfunden hat. Ohboy schließlich stammt aus einem gänzlich anderen sozialen Milieu. Er lebt vom Sozialamt und vor allem von vielen Illusionen, die signalisieren sollen, dass er doch eigentlich „alles im Griff“ hat. Er hat nicht nur intellektuell Angst vor den komplizierten Pollesch-Texten, drückt sich vor der Probe, treibt durch Berlin und schimpft aufs Sony-Gebäude – gleichwohl mit Polleschs Worten, die also nicht sang- und klanglos an ihm abprallen. Am Ende kommen die drei wieder im Theater zusammen, wo sich ihre individuellen Erfahrungen „entladen“, bevor der Premierenabend naht. „Stadt als Beute“ ist ein faszinierender, höchst anregender Low-Low-Budget-Film, der souverän mit seinen (monetär begrenzten) Mitteln und Möglichkeiten operiert und dabei wie aus einem Guss wirkt – trotz dreier unterschiedlicher Regisseurinnen, die einen sehr kreativen Weg gefunden haben, ihre Kräfte zu bündeln und auf diversen Ebenen spielerisch zu verknüpfen, wobei kaum der Eindruck des Episodischen entsteht. Flott und erstaunlich leicht ist bereits der Einstieg, der jede „Angst“ vor der Komplexität des Theatersujets nimmt und geschickt dessen Emotionalität erschließt. Dabei wäre der Film durchaus auch politisch zu deuten, wobei er kein agitierendes Thesenpapier ist, sondern eine höchst rhythmische, subtile und sogar humorvolle Städtetour, die zwischen dem Konkreten und Greifbaren hindurchhorcht, um Stimmungen und Befindlichkeiten einzufangen.

Credits

Buch und Regie
Irene von Alberti, Miriam Dehne, Esther Gronenborn (nach einem Theaterstück von René Pollesch)
Mit
Richard Kropf, Inga Busch, David Scheller, Julia Hummer, Stipe Erceg, René Pollesch, RP Kahl, Anne Osterloh, Eve Natthawat- Kritsanayut, Elisabeth Rolli, Tatiani Katrantzi, Tina Pfurr
Kamera
Dirk Heuer, Felix Leiberg, Patrick Waldmann
Kameraassistenz
Wini Sulzbach, Jens Köppelmann
Schnitt
Robert Kummer, Daniela Kinateder
Musik
Don Philippe, und Songs von Kissogram, Naked Lunch, Boy from Brazil, Dead Meadow, Sitcom Warrior, Navel, Jeans Team und Julia Hummer
Szenenbild
Anette Kuhn, Irina Kromayer, Anne Gumbrecht
Szenenbild Assistenz
Inga Damberg, Jörn Lachmann
Kostüm
Gina Krauß, Lidia Visconti
Ton
Wolfgang Widmer
Ton Assistenz
Felix Karrenbauer, Susanne Elgeti
Tongestaltung
Jochen Jezussek
Mischung
Matthias Schwab
Regieassistenz
Kathrin Krottenthaler, Viviana Kammel, Meike Sieveking
Aufnahmeleitung
Bernd Gaul
Produktionsleitung
Christoph Amshoff
Produzent
Frieder Schlaich
Produziert von
Filmgalerie 451
In Koproduktion mit
ZDF (Claudia Tronnier), Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
Gefördert von
Filmförderung Baden-Württemberg, Medienboard Berlin-Brandenburg, Royal Produktion
Uraufführung (DE)
15.02.2005, Berlin, IFF – Forum
Kinostart
23.06.2005

DVD-Infos

Extras
Making-of (25 min), Interview mit René Pollesch (10 min), Trailer, Premierenbericht Berlinale 2005, Kissogram-Clip
Sprache
Deutsch
Untertitel
Englisch
Regionalcode
Code-free
System
PAL / Farbe
Laufzeit
93 min + 35 min Extras
Bildformat
16:9
Tonformat
DD 2.0 +  5.1
Inhalt
Softbox (Set Inhalt: 1), 12-seitiges Booklet
Veröffentlichung
16.12.2005
FSK
Ab 12 Jahren

Kinoverleih-Infos

Verleihkopien
DCP (4K, 5.1)
DVD
35mm (16mm Blow Up, Dolby SR, über Deutsche Kinemathek)
Bildformat
35mm, 1:1,85
Sprache
Deutsch
Untertitel
Englisch
Werbematerial
A1-Poster
Lizenzgebiet
Weltweit
FSK
Ab 12 Jahren