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Die Geburt der Nation (“The Birth of a Nation” )

D 1973, 70 min

Eine Gruppe junger Menschen versucht in der Wüste eine Art soziale Organisation aufzubauen. Der Vorspann verortet die Handlung in Marokko im Jahr 1911, was sich auf das Werk von D.W. Griffith bezieht.

Synopsis

Ein klassischer Fall von Demontage des Konstruierten. Zum letzten Mal, so erscheint es uns, wird in "Die Geburt der Nation" der Versuch unternommen, mit den Mitteln der von Griffith zu Biograph-Zeiten entwickelten Methoden den narrativen Zusammenhang einer filmischen Erzählung zu erzeugen. Ebenso lapidar fundamental wie von sanfter Ironie beseelt wird innerhalb von 25 Filmminuten der Aufbau und Zerfall einer Staatsgründung erzählt, den sich eine in die Wüste verschlagene Gruppe junger Menschen auferlegt. Vom Scheitern seiner Protagonisten ungetrübt, wendet sich der Film dann im zweiten Teil vehement der Analyse von Potenz und Konsequenzen seiner angewandten erzählerischen Mittel zu; vielleicht sogar um in der eigenen Versuchsanordnung das Analog zum behaupteten Scheitern ganzer Gesellschaften zu finden: Aus enttäuschten Projektionen wurden projizierte Enttäuschungen!
Wybornys meisterhaft inszenierte Selbstreflexion filmischer Mittel eröffnet programmatisch eine Diskussion über die Angemessenheit des Aufwandes, den ein repräsentativer Spielfilm meint, betreiben zu dürfen. Wyborny verwertet im zweiten Teil seines Films dessen Reste und extrahiert als Resultat den Differentialquotienten von Handlung: Bewegung bleibt als Ritze in der Zeit sichtbar, alles andere verwandelt sich in einen schwarzen Block. - Heinz Emigholz, Arsenal Berlin, Programm Februar 1994

Gedreht bei Erfoud in Marokko 1972.

Pressestimmen

Die Doppelbelichtung einer Fotografie mit ihrem eigenen Negativ ergibt Grau. Es sei denn, Positiv und Negativ decken sich nicht exakt. In diesem Fall bringt eine leichte gegenseitige Verschiebung beider Belichtungsebenen die Konturen des Abgebildeten als Zeichnung hervor. Mit solchen Verfahren der historischen Avantgarde verwandelte Klaus Wyborny seine unterbelichteten Spielfilmaufnahmen aus der Steppe Marokkos Anfang der siebziger Jahre zu einem internationalen Experimentalfilm-Erfolg: "Birth of A Nation" (1973), eine Parodie auf David Wark Griffiths gleichnamiges Amerika-Epos von 1914. Statt Staatsgründung stand bei Wyborny allerdings eine vagabundierende Hippiekommune im Blickfeld. Und noch deren tranige Verständigungsformen galt es zu verfremden, mit den Verstellschrauben von Reprotechnik, Farbfilter, Umkehrprozessen, Zeitverzögerung. Kinematografische Suchmaschine nach unbewußter Bedeutung. Es war die Zeit der Kooperativen, der Aussteiger und Seiteneinsteiger, der Protestbewegung gegen die Institution eines von hierarchischen Erzählperspektiven geprägten Kinos. - Texte zur Kunst, 2005

.. Klaus Wybornys "Birth of a Nation" geht auf Griffith zurück. Zu den Bildern gibt es einen Kommentar, der wie Zwischentitel funktioniert. Es sind Zwischentitel, die Raum und Zeit durcheinanderbringen, was manchmal ironisch ist, manchmal Kabarett.
Karthago liegt hier am Nil, indessen ist es eine Stadt in den USA. Bilder und Kommentar verdoppeln sich nicht, wie auch nicht bei Griffith, wo sie zwischen Tag und Nacht sind und dazwischen die Dämmerung.
An einer Stelle sagt der Film über die Leute, die sich im Film am Rande der tunesischen Wüste an einer Oase niedergelassen haben, daß sie die Sprache abschaffen wollten; und eine Zeitlang hätten sie nur noch mit Worten wie "love", "desire" und "yearning for eternity" miteinander verkehrt; schließlich nur noch mit den Vokalen dieser Worte; und dann wären sie ganz still gewesen; und währendessen ist eine sprudelnde Quelle zu sehen; als sei mit der Abschaffung der Sprache endlich das anwesend, was die Wörter bezeichnen sollen, Liebe, Begehren und das Verlangen nach Ewigkeit. Einen Moment lang mochte ich diesem Schweigen Glauben schenken, und das war ein gutes Gefühl, eine gute Energie, sie sollen das Leben auch regieren.
Als könne er etwas ungeschehen machen, geht Wyborny den Weg zu Griffith zurück, gründet die Nation ein zweites Mal und revidiert die Filmgeschichte. Und was passiert? Das Gegenteil. Das Nacheinander wird das Voreinander, der Grund wird die Wirkung, die Konsequenz die Ursache, Schuß-Gegenschuß wird Gegenschuß-Schuß, Schwarzweiß ist Farbe, Positiv ist Negatif und beides zusammen Solarisation.
Allen Verkehrungen entspringt aber die Narration aufs neue, kein Weg, der von Griffith wegführte. Daraum hat der Film einen zweiten Teil, gemacht aus den Resten des ersten: Anfänge und Enden der verwendeten Einstellungen, Auschnitte, das Negativmaterial - die Rückstände der Narration, nicht alles aufgebraucht und nicht alles beansprucht. Doch auch das verschmähte Material ist Film, auch das Negativ, auch die einzelnen Farbschichten auf dem Zelluloid, sie haben ein Recht auf Projektion
Der zweite Teil ist nicht nur der Gegensatz des ersten Teils; Wybornys 2001; er ist dessen Fortsetzung, mit den gleichen Mitteln. - Filmkritik 10 / 79

Klaus Wyborny (Germany) screened "The Birth of a Nation" (70 minutes), one of the few extraordinary and original works of this festival - a work that begins very casually, some footage of some people in a desert, doing something, carrying water, digging - and one begins to get bored with it. At that time the sequence begins from the beginning, the same footage, but with some variations, and some new footage, and the film and its story become more complicated, and then the footage is repeated for the third time, again with new variations, the filters and color come in, and some new actions - and thus with each repeating the films grow in complexity of image and content. Basically, it’s a structural narrative with a very thin line of action, but with many formal complications and implications. Wyborny's two films shown in London  belong among the most interesting experiments in the narrative film direction that anybody's doing today. - Village Voice New York, London Avant-Garde Filmfestival, 1973

Weitere Texte

Dietrich Kuhlbrodt über den Film

Das Bild ist im letzten Teil von Die Geburt der Nation autonom geworden. Und es gibt eine schöne und souveräne Antwort auf den ersten Teil, in dem es noch als Beweismittel für kinematografische Thesen fungierte. Wybornys überaus ehrgeiziges Experiment, Filmgeschichte nachzuvollziehen, den Film aus der Sackgasse des Narrativen herauszulotsen und ihm eine viel versprechende Zukunft aufzuzeigen, dieses gelungene Experiment hievte Wyborny in die internationale Filmavantgarde und den Film ins deutsche Fernsehprogramm. Wyborny hatte der ersten Avantgarde-Pflicht der neuen Filmkünstler der 70er Jahre genügt. «Das Ziel der Filmkunst ist die Erforschung der Eigenart der Filmkunst selbst», wie Hollis Frampton es formulierte. Wybornys Filme laden ein zum Verweilen, und er lässt hoffen auf ein neues System. Ein nicht-narratives? Die Latenzen, Spannungen und Antagonismen machen Die Geburt der Nation zu Wybornys bedeutendstem Film.


Tony Rayns: "Reflected Light: Independent Avant-Garde Festival London"
in: Sight and Sound, London, Winter 1973/74, S. 17 f. Übersetzung: Martha Ann Glanz

DIE GEBURT DER NATION ("The Birth of a Nation") ist möglicherweise die tiefgreifendste Untersuchung, die je ein Filmemacher versuchte, es war einer der wenigen zutiefst erregenden Filme des Festivals. Lediglich die erste Hälfte ist 'die Geburt der Nation' selbst: in einem anekdotischen, quasi - anthropologischen Stil zeigt er die Bemühung einer Gruppe vonMenschen, in der Wüste irgendeine Art sozialer Organisation zu erreichen. Ein Anfangstitel situiert die Handlung in Marokko im Jahr 1911; dieses Datum weist anscheinend auf Griffith hin - 1911 war das Jahr, in dem er begann, die komplexe Montage einzuführen, die zum ersten Mal seine 'Aussage' vielschichtig werden ließ. Wyborny entfaltet seine Erzählung im Stil des frühen Griffith, er nimmt hauptsächlich in langen Einstellungen auf, ohne Variation von Brennweite und Kamerastandpunkt, unterteilt in Sequenzen, bei sorgfältiger Verwendung von Parallelmontage. Dem technischen Fortschritt seit Griffith' Tagen räumt er seinen Platz ein, indem ergelegentlich Farbeinstellungen einfügt, sowie durch Klang in Form von Musik und einen gelegentlichen genuschelten Kommentar.
Diesem Abschnitt zuzuschauen heißt die Substanz des Films neu zu entdecken, seine außerordentliche Potenz zu lokalisieren und definieren . Wie in DALLAS TEXAS ordnet sich die Erzählung schließlich der Syntax unter; sie wird zu einem formalen Bau, unabhängig von jeder literarischen 'Bedeutung'. Wyborny selbst vergleicht den Effekt m i t dem Naturtheater von Oklahoma in Kafkas "Amerika": ein Fantasiebau, der autonom wird und gleichzeitig als konkrete Wirklichkeit, Metapher und naiver Traum existiert. Die zweite Hälfte des Films ist ein Anhang zur ersten, sie besteht aus Resten sowie aus dem montierten Material der ersten Hälfte. Die jetzt chaotischen Bilder, die wegen ihrer Rückgriffe auf den ersten Teil des Films eine besondere Stärke haben, sind einer (möglicherweise mathematischen) Reihe von Transformationen unterworfen, die schließlich ihren Inhalt ausradiert und den Film auf sein Rohmaterial Zelluloid und Emulsion reduziert. Das heißt physisch, dass der Film eine Art Dämmerung ist, durchschossen von Blitzen des bedeutungslosen, übriggebliebenen Bildes; abstrakt, das Medium wird aus seiner konkreten Wirklichkeit herausgeschält und für sich selbst gefeiert; metaphorisch, es ist eine genaue Darstellung des; ,Meeres der Geburt", von welchem Jack Smith in BLONDE COBRA (ein Film von Bob Fleischner und Ken Jacobs, A.d.R.) singt. Wybornys Film weist darauf hin, dass der Film laufen konnte, bevor er gehen lernte, und im Alleingang beginnt er die notwendige Forschung, um all das klarzustellen; für einen zeitgenössischen Filmemacher gibt es kein wichtigeres Ziel, das er sich setzten könnte.

 

Interview with Klaus Wyborny by Jonas Mekas, Village Voice New York, June 2, 1975

The presentation of "The Birth of a Nation" at the Second Lonon Avantgarde / Independent Film Festival established Klaus Wyborny as one of Europe's leading Avantgarde-Film figures. I should add here that "The Birth of a Nation", in this particular case, has nothing to do with D. W. Griffith. Its a Wyborny film.

Klaus Wyborny, originally from Austria, but residing in Hamburg, taught film at Binghampton College this past winter. In April and May he came to New York to give shows at the Collective for Living Cinema and Anthology. We saw "Demonic Screen", "Percy McPhee-Agent of Horror", "Dallas-Texas, After the Goldrush", "The Ideal (Ecstasy and Beauty), and "The Birth of a Nation".

All of Wyborny's films are narrative. All concern structures and language. They are progressively abstract and indeterminate. They rely much on repetition and variation. They grow and change in mood and intensity with each repetition and each variation. His voice, in the contemporary Avant-garde film, is original, intense, personal.

Jonas: "Would you attempt to describe your own particular direction in cinema?"

Wyborny: "I've always been very interested in the narrative. My cinema has to do with stretching the narrative until it kind of collapses. I'm interested in the point of a certain critical balance. When this critical balance is achieved the audience becomes very open. So I try to expand the narrative to that point, kind of collapsing the narrative. The narrative seems to fall apart somehow, the words gain distance from the images, the cutting makes the images fall apart."

"Most of the filmmakers in America are interested in the aestetics of the single image. Maybe not all, but many are. I don't care much about the individual image. But I care about the structures, about what they do to one's mind. Maybe this is being analytical. But I analyze the time structures while I proceed in building them. Structure in itself doesnt't interest me. I am interested only in specific ones which then I kind of try to analyze. There are different ways of analyzing them. I have repetitions, this is one way. I also have decompositions of parts of the images, which is another way."

Jonas: "In comparison with your work, the films of other leading European film-makers, who work in the structural direction, are very mechanical and mathematical. Your work retains spontaneity and chance, its very open."

Wyborny: "This is probably because I am a mathmetician."

Jonas: " In what way?"

Wyborny: "I studied theoretical physics for seven years. Thats a long time."

Jonas: "It seems to me that artists whose backgrounds are in the exact sciences are more open to chance in their art, than those who come from the humanities."

Wyborny: "The latter ones kind of play a simple number game. Of course, i also play number games but I try to expand them. I try to get over the simplicity of their structures by making chance decisions in the middle of them. I break them up. For I developed a great mistrust against so called "logical" structures, thats why I left mathematics and switched to film. I don't want to repeat the same logical, rational structures and ideas that came to the European mind in 1600. I don't want to do this in cinema. A-B-C-logic in cinema doesn't interest me."

Jonas: "You have a book coming out soon?"

Wyborny: "Yes its in German. It's called "Elementary Theory of Editing". Its being published by the University of Hamburg. Its a mathmatical work."

Jonas: "Are you planning to come back to New York?"

Wyborny: "Yes, I'm looking for teaching positions in universities. In Germany there are very few places today to either show ones work, or teach. Its not a very good situation at the moment, for the avant-garde film-maker."

Jonas: "Who else is doing advanced work in Hamburg or in Germany?"

Wyborny: "There is Werner Nekes , Dore O., and Hellmuth Costard in Hamburg, von Praunheim in Berlin, Werner Schröter in Munich, Birgit and Wilhelm Hein in Cologne."

 

Credits

Buch, Regie, Kamera, Schnitt
Klaus Wyborny
Mit
Christoph Hemmerling, Angelika Düsing, Peter Flak, Hannes Hatje, Nick Busch
Musik
Aleksandr Skrjabin, Klaus Wyborny
Produzent
Klaus Wyborny
Produktion
Gobsek-Film
Im Auftrag von
Zweites Deutsches Fernsehen (ZDF) (Mainz)
Uraufführung
30.05.1973, Hamburg, Filmschau